Was schräg wirkt, bleibt im Gedächtnis oft am längsten hängen. So ist es mir mit dem Song von Curd Jürgens ergangen. Irgendwie hat der mich ewig begleitet. Ich konnte nicht mal sagen, warum.
Als das Lied 1975 erschien war ich 18. Was sollte ich mit dem Thema? Den Schauspieler selber mochte ich auch nicht besonders. Aber der Song saß. Für immer. Als die 60 näher rückte, war er gleich wieder da; als wär er nie fort gewesen.
Der ewige Ohrwurm: Je dümmer desto immer. Und für mich stand das Lied lange weit oben in der Rangliste der unfassbaren Dummheiten.
Ich hab’s glaub ich über eine Fernsehshow mitbekommen: Der Star ist 60 geworden und singt darüber! Aber WAS er singt! „Kein bisschen weise“. Kein bisschen? Boar, das ist blöd!
Ich hab wohl gar nicht hinhören wollen. Jetzt, mehr als 40 Jahre später entdecke ich, dass ich auch gar nicht richtig hingehört habe. Was mir vor allem immer als Ausbund von Altersschwachsinn im Ohr klang, war der Refrain:
„Sechzig Jahre und kein bissschen weise,
Aus der harten Schale nichts gelernt.“
Große Güte, was soll das bedeuten? Ich höre nur „kein bisschen weise“, „harte Schale“, „nix gelernt“. Ist er noch stolz darauf? Wie kann man überhaupt was aus ner harten Schale lernen? Der Mann ist doch nuts! Der hat einen an der Waffel.
Das Lied wurde einigermaßen populär und Curd Jürgens gerade auch dadurch bei mir zur Verkörperung eines verlogenen Umgangs mit dem Alter, in dem sich Alte selbstgefällig als starrsinnige Narren präsentieren. Wir ändern uns nicht! Selbst wo wir blöde sind, bleiben wir stolz darauf. Unterschwellig, aber deutlich tritt die Botschaft hinzu: jeder sieht, dass wir alt werden, aber wir nehmen das nicht an.
Genau mit dieser Botschaft hab ich mir den Song heute wieder vorgenommen. Das Internet hält sie ja bereit, die „Schätze“ der Erinnerung. Und dann gibt es außer YouTube-Videos auch noch die Songtext-Archive. Da lese ich jetzt rein, weil außer dem Gaga-Refrain ja wenig übrig geblieben ist. Und siehe da! Der Text war anders.
„Sechzig Jahre und kein bißchen weise,
aus gehabtem Schaden nichts gelernt.“
Oha. Da hab ich ihm Unrecht getan, dem Curd Jürgens. Aber, hm: Ist der echte Text besser? Sprachlich doch nicht. Der „gehabte Schaden“ lässt ihn eher leicht debil rüberkommen. Passt ja vielleicht zur gesamten Aussage, aber bitte: Spricht so ein Wiener Burgschauspieler? Der Mann hatte beruflich ein Leben lang mit der Pflege der deutschen Sprache zu tun. Da möcht man ihn gern anders singen hören. Und sei’s mit harter Schale. Also: ja, schon peinlich, wie man sich verhören kann. Aber andrerseits …
Zu sich stehn und Abstand finden
Im kompletten Text kommt als Message rüber: „Ich hab mir mit meiner Art so einige Schrammen abgeholt. Manchmal hat’s richtig Weh getan. Aber wenn ich ehrlich bin: gelernt hab ich nichts daraus. Ihr seht mich jetzt als 60Jährigen. Damit wirkt man vielleicht weise – aber nee, das täuscht. Reife hat nichts zu tun mit Falten.“
DAS ist natürlich besser. Da ist schon Weisheit zu erkennen. Der berufliche Zwang, auf sein Image zu achten („Daß ich dann blieb, das war nicht Selbstvertrau’n, sondern die Angst, man könnte mich vergessen.“), der machte manches Bleiben-wie-man-ist schon nachvollziehbar. Aber bleibt das jetzt für immer so? Der Text lässt das offen. Die Botschaft des Songs sagt dagegen eindeutig: Ja. Ich bleibe, wie ich bin.
Der Song war ganz wörtlich auch Begleitmusik zu einer gleichnamigen Biographie. Vielleicht lese ich die jetzt mal. Vielleicht lerne ich dann, dass da mehr im Spiel war, und vor allem auch mehr Weisheit im Umgang mit dem (bevorstehenden) Alter. Aber ich glaube, dass ich den Song und seine populäre Aufnahme trotz schwerem Verhörer schon nicht so falsch aufgenommen habe: als selbstzufriedene Präsentation eines alt Gewordenen, der trotz mancher Wunden keinen Anlass sieht, sich zu ändern.
Es ist ja stark, wenn du im Alter sagen kannst: Ich hab einige Fehler gemacht, aber im Großen und Ganzen steh ich zu mir. Ich würde wohl wieder so leben. Aber: Muss man dann auch so weiter machen? Es wäre doch z.B. möglich zu sagen: „den Fehler x oder y – den bedaure ich; an der Stelle HABE ich gelernt“?
Und wenn dann auch größere Dinge im Spiel sind?
Mitte der 1970er Jahre hatten die 60-Jährigen schon erheblichen Grund, das Lernen aus ihrer Lebenserfahrung nicht wegzuschieben. Curd Jürgens hatte seinen 30.Geburtstag 1945. Was immer seine persönliche Biografie angeht: wenn diese Generation mit 60 heiter gelassen singt „aus Gehabtem Schaden nichts gelernt“, dann war der Hass darauf, den ich für mich als ganz individuelle Abneigung verstanden hatte, vielleicht nicht ganz unangebracht.
Die Generation der Alten, mit denen ich als Jugendlicher aufgewachsen bin, hatte so manche Probleme damit, gute Altersvorbilder auszuprägen. Einigen ist es gerade darum besonders gut gelungen. Viele wirkten verpanzert.
Möglicherweise spielte für mein Hören damals eine Rolle, dass meine erste große Politisierung mit dem Misstrauensantrag gegen Kanzler Willy Brandt geschah. Der „Kniefall von Warschau“ war für mich schon ein starkes Bild von Würde. Sich seiner Geschichte zu stellen oder sie in neuer Großmannssucht zu verdrängen: das war ein stark polarisierendes Thema. Vielleicht hab ich das Lied spontan da eingeordnet? Das könnte mir heute am ehesten erklären, warum ich es damals nicht nur blöde fand, sondern es auch gehasst habe. Ich kann’s nicht mehr sagen; bewusst war mir das jedenfalls nicht.
Inzwischen ist der Affekt verflogen. Ich kann das Lied fast schon gelassen hören. Und wenn jemand sich gern einen unverbesserlichen Dummkopf nennt, dann spür ich da inzwischen auch Nähe.
Jedenfalls ist die 60 ein stark symbolisches Datum, das dich einlädt, über dich selber und dein Leben neu nachzudenken. Ob jetzt oder erst in einigen Jahren: du gehst in einen neuen Lebensabschnitt. Die Frage steht an, wie du ihn gestaltest. Und das enthält als große Chance, zu Dingen neu Abstand zu finden und neu zu lernen.
Das Alter anzunehmen heißt für mich genau das. „Kein bisschen weise“ und zufrieden damit – das find ich nach wie vor nicht so dolle …
Die Moral von der Geschichte
… ist dann, nüchtern gesehen, dennoch eine andere: Ich bin als 60-Jähriger in der Lage, einen fast lebenslangen Hörfehler zu korrigieren!
Dank dem technischen Fortschritt – hier in Gestalt von YouTube und den Songtextarchiven! Das mag für „digitale Natives“ nicht leicht zu verstehen sein, aber tatsächlich hab ich in meiner Jugend wohl die meisten Songtexte nicht oder falsch verstanden. Manche Platten-Cover oder Schutzhüllen enthielten Texte, aber das meiste „Liedgut“ der 1970er und 80er ging doch unerkannt an mir vorbei. Und wer weiß, ob etwa meine Liebe zu Frank Zappa den Text-Schock überstanden hätte? Im Positiven wie Negativen waren gruslig viele Hörprobleme im Spiel.
Jetzt steht alles zum Nachlesen, was immer jemand gesungen hat. Unter Umständen auch schon vorher. Wer’s noch nicht kennt, sollte es baldigst erkunden! Für das Lied von Curds Jürgens gibt’s bei YouTube die oben eingebettete Fernseh-Aufzeichnung: Curd Jürgens mit feschem Halstuch, lebhaftem Blick und schelmischem Ausdruck; das lässt an der „prima und weiter so“-Bedeutung des Lieds wohl kaum Zweifel zu. Allerdings sind Anfang und Schluss des Songs hier weggeschnitten. Wer’s ganz hören mag, wählt das Video zum Song mit dem Bild des Covers der damals veröffentlichten „Single“.
Songtexte stehen oft in den Begleitinfos. Und wo nicht, springen die die Songtext-Archive ein. Das Angebot ist reichlich. Es reicht schon, einfach „Songtext“ in die Suchmaschinen einzugeben. Beim Curd Jürgens-Test überzeugte mich neben dem benutzten Dienst von SongtextMania auch Golyr.
Das Auffinden von unbekannten Titeln ist übrigens auch nicht schwer. Zum einen gibt’s die genialen Musik-Erkennungsdienste Shazam & Co. (hier eine Übersicht über Android-Apps). Du hälst dein Smartphone vor die Musikquelle und hast meist in wenigen Sekunden einen Titel zum Lied (und eine Kaufangebot).
Zum anderen leistet selbst Google oft erstaunliche Dienste, wenn man Textzeilen in Anführungszeichen in die Eingabeleiste schreibt. Die Brauchbarkeit hängt natürlich von der Eingabe ab. Der Test zu „I love you“ erbrachte 122 Mio. Treffer. Aber man findet schon oft das Gesuchte.
Ich hab sogar meinen Hörfehler „aus der harten Schale nichts gelernt“ bei andren wiedergefunden! Man ist tatsächlich mit nichts allein. (Hier z.B. im Einrag vom 5.12.11: ‚Ich habe im Lied „60 Jahre und kein bisschen weise“ immer „aus der harten Schale nichts gelernt“ verstanden und mich schon immer gefragt, was das eigentlich bedeuten soll.‘)