Ciceros Schrift trägt den Titel „Cato maior de senectute“ („Cato der Ältere über das Greisenalter“). Als Klassik-Gut wird sie dagegen oft schlicht „De senectute“ und deutsch „Über das Alter“ genannt . So z.B. der Titel der Reclam-Ausgabe von 1998, die mir untergekommen ist. Das führt allerdings dreifach aufs falsche Gleis:
– Erstens geht der Charakter der Rede verloren, die Cicero für den Hauptteil seiner Schrift wählt. Cicero legt seine Ansichten dem 84jährigen römischen Muster-Konservativen Cato dem Älteren in den Mund. Catos Rede antwortet auf fiktive Fragen der Freunde Laelius und Scipio, die damit die Ansprechpartner der Rede darstellen und für das angezielte Publikum stehen. Das ist ein herausragender Adressatenkreis: Senatoren, Konsuln, Feldherren und Bankiers – die Herrschenden in Rom. Männer.
– Zweitens wird dem Thema eine sozusagen moderne Unschärfe untergeschoben, indem eine gesonderte Alterstufe, das Greisenalter, mit dem Alter schlechthin gleichgesetzt wird. Senectute steht für die Lebenszeit nach der Ämterlaufbahn. Das ist nicht einfach nur eine Zeit des drohenden körperlichen Verfalls, sondern für die hier Angesprochenen der Schrecken des erzwungenen Abschieds von Posten und Ehren. Das zentrale Altersproblem der Herrschenden: Abschied von der Macht.
– Und drittens steigt man so schnell auf der falschen Etage aus der Zeitmaschine. Mit der fiktiven Dialogsituation, in der Cicero hier Cato reden lässt, werden wir aus Ciceros Gegenwart nochmal um mehr als hundert Jahre zurückgeschickt. Mit dem 84jährigen Cato dem Älteren sind wir im Jahr 150 v. Chr. – die „gute alte Zeit“ der römischen Republik. Weit vor den Bürgerkriegen und dem Machtanspruch der jungen Feldherren, mit der die Republik in Ciceros Gegenwart zu Ende geht.
So ist die klassische Erörterung über das Alter im Original das Fake einer klassischen Erörterung. Der klassisch alte Alte, der hier über das Alter spricht, lässt einen klassisch alten Alten für sich sprechen.
Tatsächlich ist die Schrift eine Art politisches Wunschkonzert: Lasst uns die alten politischen Strukturen im Geist der alten römischen Tugenden bewahren, erneuert nur um die Früchte der griechischen Kultur! Catos fiktive Rede ist ein beständiger Zeigefinger; Tugendmahnung und Streit gegen die Auswüchse einer hedonistischen Kultur.
Das macht insofern Sinn, als es für Cicero hauptsächlich auf die Adressaten im Senatorenumkreis ankommt. Sie alle sind auch durch Caesars Diktatur mehr oder minder aufs politische Altenteil geschoben und werden sich, beraubt an Macht und Ehre, die Frage des Alters zu stellen haben: wie geht es weiter? Was wird unsere Zukunft sein?
Während seine politischen Freunde schon die Ermordung Caesars planen, entwirft Cicero ein geistiges Reformprogramm für die konservativen Eliten.
(Für den folgenden Durchgang durch den Text verwende ich die eben erwähnte Reclam-Ausgabe. Sie hat den Vorteil, den lateinischen Text der deutschen Übersetzung gegen-überzusetzen; sie ist im Deutschen weniger altertümelnd und schwerfällig als die Übertragung bei Gottwein – die ebenfalls Latein und Deutsch gegenübersetzt – und sie nährt vor allem meinen beständigen Argwohn, der Übersetzung nicht einfach trauen zu dürfen. In Zweifelsfällen erlaube ich mir, eigene Übersetzungen beizufügen. Wer mag, kann sie online mit der Version bei lateinlehrer.de oder der englischen bei Bartleby.com konfrontieren; letztere ist übrigens mit verkürztem Titel in den Kanon der „Harvard Classics“ aufgenommen. Thelatinlibrary.com bietet den lateinischen Text in großer Schrift, was bei Anpassung der Fensterbreite vielleicht am angenehmsten zu lesen ist; kaum lesbare Faksimiles sind ja nicht unbedingt die angemessenste Form lateinischer Texte.)
Caesar über allem
Den Geschichtsschreibern und seinen Biographen zufolge war Cicero in das Komplott zur Ermordung Caesars nicht eingeweiht. Um so bemerkenswerter, dass die Schrift mit der Andeutung eines Hinterhalts beginnt. Das erste Wort ist ein Zitat aus den Annalen des Ennius, wo ein Hirte dem Feldherren Titus Flaminius einen geheimen Weg anbietet, den Gegner von hinten angreifen zu können:
"Titus, wenn ich dir helfe und dich von einer Sorge befreie, die dich nun ängstigt und tief im Herzen dir Qualen bereitet, winkt mir dann wohl ein Lohn?"
Aber macht das Sinn, damit eine Schrift über das Alter zu eröffnen? Wenn es gilt, das Alter als naturgemäße Lebensphase anzunehmen, beginnt man das günstig mit dem Gedanken an einen Angriff aus dem Hinterhalt? Oder will man glauben, einer der bedeutendsten Redner und Anwälte aller Zeiten hätte sich hier im Zitat vergriffen? Er hätte sich eines römischen Klassikers (des römischen Klassikers vor Vergils Aeneas) auf eine nur ganz oberflächlichen und banalen Weise bedient und den Sinngehalt der Stelle verkannt?
Dann allerdings müsste man auch glauben, dass er sich ebenso in der Wahl seiner Titelfigur vergriffen habe. Denn Marcus Porcius Cato war nicht nur der Name eines verehrten Konservativen aus der Vorzeit der römischen Bürgerkriege, sondern auch der Name von Caesars entschiedenstem Gegner. Cato der Jüngere, wie er zur Unterscheidung genannt wurde, war über lange Zeit einer der bedeutendsten Gegenspieler Caesars und die herausragende Persönlichkeit im republikanischen Restheer, das Caesar im April 46 vernichtend geschlagen hatte. Um Caesar nicht in die Hände zu fallen, wählte Cato in der Niederlage den Freitod – und wurde auch damit zu einem Märtyrer der untergehenden Republik. Dieser Cato der Jüngere galt allen Beobachtern als Wiederverkörperung der Tugenden seines Urgroßvaters. Wenn aber des Alten Tugenden jetzt gerühmt werden, wird dann hier nicht ein Geist des Widerstands beschworen?
Jeder zeitgenössische Leser musste den Titel der Schrift so lesen. Und erwarten, dass hier im Denken über das Alter der alten Verhältnisse gedacht wird und dessen Helden ein Denkmal errichtet. Mit dem Dichter-Zitat als Einstieg bestätigt Cicero das. Mit dem Gedanken an einen Hinterhalt werden Hintergedanken an Caesar eingeführt. Die Last der Tyrannei steht hinter der Last des Alters … und die ist die eigentliche Aufgabe.
Ich weiß, äußert Cicero als Vermutung über den Freund „dass dich zuweilen dieselbe Dinge bedrücken wie mich selbst„. Aber diese „anspruchsvolleren Aufgaben“ müssen „auf einen anderen Zeitpunkt verschoben werden„.
(rebus quibus me ipsum interdum gravius commoveri; quarum consolatio et maior est et in aliud tempus differenda – Dinge, die mich selber bisweilen schwer bedrücken; deren Tröstung bedeutender ist und auf eine andere Zeit verschoben werden muss)
„Jetzt aber halte ich es für richtig, eine Schrift über das Alter für dich zu verfassen. Von dieser Last, die mir mit dir gemeinsam ist, der Last des Alters, die schon herandrängt oder jedenfalls näher rückt, möchte ich nämlich dich und mich selbst erleichtert sehen.“ (1f.)
Caesar und das Alter sind „Lasten“, die alle angehn. Aber während die größere Aufgabe, die politische, jetzt nicht angegangen werden kann, ist es doch machbar, sich von der Last des Alters zu erleichtern.
Wie? Was? Das Naturnotwendige besiegen wir gleich, das Politische ist schwieriger?
Man kann nicht ausschließen, dass dem Rhetoriker Cicero ein solches Paradox als Lagebeschreibung angemessen schien. Aber man ersieht daran auch seine Resignation. Seine Diagnose ist hier: politisch geht derzeit nichts; wir müssen auf langfristige (Überzeugungs-) Arbeit setzen.
Dazu ist die Schrift über das Alter ein Teil. Sie leistet zweierlei: zum einen wird sie eine klare Verherrlichung der alten Verhältnisse (mit ihrer Dominanz der Alten in der Republik). Und zum anderen leistet sie ein Stück Trauerarbeit, eine Eingewöhnung ins Zurücktreten. Samt Abschied von Amt und Macht. Zum Umgang der Weisen mit den Dingen gehört, den Wechsel der Zeiten anzunehmen, und ebenso das Naturgemäße des Lebenslaufs. Und sich davon nicht unterkriegen lassen.
Die Haltung passt und illustriert Ciceros Abseits-Stellung vor den Iden des März. Dass er in die Verschwörung nicht eingeweiht wurde, hatte mit seinem schwankenden Verhalten während der vorausgegangenen Jahre des Bürgerkriegs zu tun. Nach der Ermordung Caesars ändert sich alles und Cicero wirft sich um so entschiedener gegen Marcus Antonius.
Die Schrift übers Alter aber hat er noch aus einer Sicht der politischen Ohnmacht verfasst. Das prägt ihre beständige Zwiespältigkeit:
- „Philosophie statt Politik“ – aber beständig kriegerische Heldentaten der Alten rühmend,
- „Akzeptanz dessen, was ist“ – aber beständig die alten Verhältnisse verherrlichend,
- „Annahme des Alters“ – aber all seine Schwächen leugnend.
- Ein Feldzug gegen Klagen – der selber von Anfang an als Klage auftritt.
Die Art der Weisen. Und ihre Armut
Es passt zu dieser Zwiespältigkeit, von der Natur des Menschen zu handeln, und die meisten Menschen auszuschließen. Cicero weiß, dass er den Armen nichts zu sagen hat. Er lässt das seinen Cato sogar noch aussprechen – um es gleich wieder zu vergessen.
Für seine klaglose Einstellung zum Alter bewundert, hatte Cato als erstes die Antwort, dass daran eigentlich gar nichts Erstaunliches und die Haltung auch nicht schwierig sei.
„Wer nämlich in sich selbst nicht die Voraussetzung dafür hat, gut und glücklich zu leben, für den ist jede Altersstufe bechwerlich. Wer aber alles Gute bei sich selbst sucht, dem kann nichts schlimm erscheinen, was die Naturnotwendigkeit ihm bringt.“ (4)
Aber was ist, wenn einer vergeblich sucht, weil ihm die Güter fehlen? Da könnte doch, lässt Cicero den Laelius nachfragen, „vielleicht jemand behaupten, dir scheine das Alter wegen deiner Mittel, deiner Möglichkeiten und deines Ranges leicht, und darüber könnten nicht viele verfügen„.
Ja – das lässt er gelten, der alte Cato. Bei völliger Mittellosigkeit kann das Alter nicht einmal für einen Weisen leicht sein.
„Nec enim in summa inopia levis esse senectus potest ne sapienti quidem, nec insipienti etiam in summa copia non gravis“ (8).- „In größter Armut kann das Greisenalter selbst für einen Weisen nicht leicht sein, noch für einen Dummen bei größtem Reichtum nicht unbeschwert“.
(Die Reclam-Ausgabe übersetzt in summa inopia statt „in größter Armut“ mit „in völliger Mittellosigkeit“; Gottwein zieht nebulös „Dürftigkeit“ vor. Die englische Übersetzung bei Bartleby verfährt hier recht frei und dichtet noch was von Millionären hinzu: “ For the philosopher himself could not find old age easy to bear in the depths of poverty, nor the fool feel it anything but a burden though he were a millionaire“. )
Und was schließt Cato daraus? Gar nichts!
Er übergeht die Mittellosen sogleich wieder und setzt damit fort, die Tugenden und ihre Betätigung zu preisen. „Die besten Waffen gegen das Alter, Scipio und Laelius, sind überhaupt die Tugenden und ihre Betätigung. Zu jeder Lebenszeit geübt, bringen sie, wenn man lange gelebt hat, wunderbare Früchte …“
Aber ja eben keine, die arme Tugendhafte essen könnten. Die „weisen Mittellosen“ sind schon nach einem Satz wieder vergessen. Das ganze Zugeständnis ist nur für die Pointe gegen die dummen Reichen da. Das ist der Punkt, um den sich alles dreht: das gute und das falsche Leben … unter denjenigen, auf die es ankommt.
Die Dummen, die hier an den Pranger kommen, sind dafür auch keine namenlosen Ungebildeten, sondern Senatoren und ehemalige Konsuln. Manchmal sogar zu Unrecht. Von den beiden erstgenannten Dummköpfen, die Cato über das Alter klagen lässt – „C.Salinator und Sp. Albinus, ehemalige Konsuln, die fast so alt wie ich sind“ -, hat Cicero den zweiten sehr viel älter werden lassen, als er wurde. „Sp. Albinus“ ist mit etwa 50 Jahren der Pest zum Opfer gefallen. Aber was tut’s! Wichtig ist, gute und schlechte Beispiele anzuführen – und dafür kommen nur die Herrschenden selber in Frage.
Alles andere ist für Cicero irrelevant. Er schreibt keine Erbauungsliteratur für jedermann. Dann müsste er natürlich etwas zu den Mittellosen sagen. Nein, Cicero schreibt an seinesgleichen. Etwas anderes macht politisch keinen Sinn. Und so fehlen dann wie selbstverständlich auch die Frauen. Selbst diejenigen in summa copia.
Es ist dementsprechend auch keine zufällige, willkürlich gewählte Form, wenn Cato seine Auffassung im Folgenden als Widerlegung von Klagen über das Alter ausführen lässt. Das hier ist eine Schrift die sich an die Elite der römischen Republik richtet: diejenigen, die für Cicero die Lösung des Caesar-Problems zu sein hätten.
Als moderne Leser kommen wir um den Begriff der Menschenrechte nicht herum und sind damit von Anfang an von Cicero getrennt. Man hat eigentlich nur die Wahl: die Schrift historisch zu lesen oder sie zur bloßen Erbauungsliteratur fürs Altersheim zu machen. – Ich komme darauf abschließend zurück. Zuvor aber noch ein Durchgang durch die Ausführungen im Detail. Die Schrift ist Geburtsort und Heimat manch vertrauter „Altersweiheit“: es macht schon Sinn, deren Herkunft zu kennen.
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Ciceros Schrift über das Alter 1: Der geköpfte Alte 2: Cato, das Altenideal 3: Klassische Altersklagen, klassisch abgetan 4: Weisheiten fürs Altenheim?