Alle wollen alt werden, aber niemand alt sein – Cicero über das Alter, Teil 3

Unter den „Weisheiten übers Alter“ ist das ein Klassiker.  Klassisch geprägt hat Cicero diese Münze, indem er es seinen  Redner Cato als Ausgangspunkt zur Widerlegung von Altersklagen nehmen lässt.

 

Die Frage des Alters als Gerichtsverhandlung

Cicero lässt Cato sich für das Lob bedanken, sein Alter in Würde zu tragen, und sogleich zieht er gegen Klagende zu Felde, indem er vom Alter behauptet:

quam ut adipiscantur omnes optant, eandem accusant adepti; tanta est stultitiae inconstantia atque perversitas

Die Reclam-Ausgabe übersetzt:

„alle wünschen, dass sie es erreichen, doch wenn es erreicht ist, klagen sie es an; so unbeständig und abartig ist die Dummheit“

Wäre der Zusatz von der „Dummheit“ nicht da, dann könnte das Wünschen und Klagen schon auch eine schlichte Beschreibung über den gewöhnlichen Lauf der Dinge sein. Man wünscht sich, lange zu leben und hat dann aber über die letzte Phase doch Grund zu klagen. Ist doch „normal“, oder? Man wird nicht seinen Lebenswillen aufgeben und vorzeitig Schluss machen, weil das Alter so beschwerlich ist. Und soll man im Alter dann so tun als wäre nichts? Soll man die lächerliche Figur abgeben, Kräfteverfall und Gebrechen zu leugnen, die lüsternen Greis*innen und prahlerischen Alten zu geben? Oder aber wie alte Beeren den Rest der Zeit still am Baum verdorren?

Aber Cato nennt das Klagen eine Dummheit. Was genau meint er? Und was soll sogar „abartig“ daran sein, über die Gebrechen des Alters zu klagen? Wenn es Reichtum wäre, würden wir die Klagen ja schnell als „abartig“ akzeptieren. Reich werden wollen, und dann darüber klagen? Da hieße es „Deine Sorgen möcht ich haben!“ Beim Alter aber eher nicht. Das liegt doch wohl an der Sache, oder?

Wer immer die genannte Weisheit übers Alter hört, spürt einen rhetorischen Trick am Werk. Da werden Sätze über das Alter so zusammengefügt, dass sie einen Widerspruch ergeben. Man erwehrt sich des Tricks, indem man das Altwerden-Wollen als bloßes Sprachspiel durchschaut:  „Ach geh, dass ich nicht vorher abkratzen will, heißt noch lange nicht, mich aufs Altsein zu freuen!“ Tatsächlich gehört der Wunsch, alt werden zu wollen, zur Untergattung der Wünsche, mit denen man sich für gewöhnlich weniger hingebungsvoll befasst. Wie oft wacht man morgens auf mit einem glücklichen „oh, wie schön, im Traum war ich alt“?

Das sagt vielleicht, wer dann zur Arbeit muss und nicht mag. Der „Ruhestand“  als aktiv genießbare und selbst gestaltbare Zeit, als verlängerte Ferien am Lebensabend, die sogar zum „neuen Leben“ ausgebaut werden können: ja, das kann ein Gegenstand des Wünschens sein. Aber das ist eine moderne Errungenschaft, von der Cicero nichts weiß und die Schrift nicht handelt.

Für Cicero ist das Alter tatsächlich eine „herandrängende Last“, wie er eingangs schreibt; eine Sorge, mit der man sich ernsthaft beschäftigt und beschäftigen muss. Er tut es hier – und er tut es als Anwalt. Der „rhetorische Trick“ kommt nicht von ungefähr: Cicero ist Anwalt. Der bekannteste und erfolgreichste seiner Zeit und als Redner und Lehrer der Rhetorik einer der bedeutendsten aller Zeiten. Subjektiv macht er das, was jedem zu empfehlen ist, der sich mit dieser herandrängenden Last zu befassen hat: er mobilisiert seine besten Fähigkeiten, um sich der Aufgabe zu stellen. Er geht sie als Anwalt an und entwickelt eine Gerichtstaktik für den besonderen Fall. Das römische Volk gegen das Alter, verteidigt von Marcus Tullius Cicero alias Cato, der Ältere.

In Ciceros Szene agiert ein Profi vor Gericht. Als erstes schaut er sich die Geschworenen an. Wer sitzt hier und hat eine Stimme im Prozess? Alte, einflussreiche Männer. Keine jungen Männer, die das „jeder will alt werden“ gleich auslachen würden. Sondern schon alt gewordene. Sie haben leben und älter werden wollen. Der Verteidger erwischt sie bei dem Widerspruch, dass sie das, was sie jetzt sind, ja schon tatsächlich gewollt haben und sich nun dennoch drüber beklagen.

Wenn man das „Klagen“ juristisch nimmt, dann stimmt da wirklich was nicht zusammen: du kannst keinen Prozess gegen etwas führen, dass du selber Tag für Tag als Absicht  verfolgt hast!

Und Cicero belegt das auch nicht einfach mit Schimpfworten, sondern er arbeitet den Widerspruch heraus: „tanta est stultitiae inconstantia“. Wörtlich übersetzt: so groß ist die Unbeständigkeit der Torheit. „Unbeständig“ ist hier erstmal ein Wort, das als sachliche Beschreibung gerechtfertigt ist. Der frühere Blick ist ja aufgegeben und durch etwas anderes ersetzt worden.

Und kann man das Klagen nicht auch als eine Umkehr der Ansicht verstehen? Genau das betont das angeschlossene „atque perversitas“. Perversitas heißt wörtlich „Verkehrtheit“ und meint eine Richtungsänderung im Sinne der „um 180° gedrehten Anschauung“. Auch das ist ja durch die Beschreibung  gedeckt – und führt aber die Bewertung des sittlichen Verkehrten im Schilde. Die Umkehr wird zum falschen Weg.

(Weil die Übersetzer der Schrift meist immer schon auf seiner Seite sind, fällt es ihnen manchmal schwer, das Herausarbeiten von Bedeutungen wiederzugeben. So wird in der Reclam-Übersetzung perversitas überdeutlich mit „abartig“ wiedergegeben und Ciceros Arbeiten an Zustimmung in die Nähe eines bloßen Schimpfens verschoben. Ähnlich auch die Harvard-Übersetzung; Gottwein und lateinlehrer.de bleiben dagegen beim wörtlichen „Verkehrtheit“.)

So weit, so schlau, könnte man sagen. Aber wie sehr überzeugt das? Sollte man nicht vielleicht eher sagen, dass die Alten zur Einsicht Gekommene sind? Sie haben früher nur kenntnislos über das Alter gesprochen. Als Jugendliche war nur Wachstum der Kräfte ein Thema; und auf der Karriereleiter hatten sie mit anderem zu tun: Spiele organisieren, um das nötige Ansehen für die Ämterwahlen zu gewinnen; sich in den Ämter bewähren, anschließend als Statthalter Provinzen regieren und dort Reichtümer anhäufen. Bevor du noch viel gedanklich begreifst, bist du schon alt geworden und plötzlich sehen die Dinge anders aus. Die Umkehr in der Ansicht ist also vielleicht sachlich angemessen. Nicht dumm, sondern im Gegenteil das Ende der Dummheit. Oder?

Aber der Redner lässt seinem Publikum keine Zeit, die Sache zu bedenken und geht gleich über zur nächsten Vorführung, wie dumm die Klagenden sind.

 

Wer „plötzlich“ 60 wird, hat zwischendurch das Zählen vergessen

Die Klagenden sagen, behauptet Cato nun, das Alter nähere sich schneller als sie angenommen hätten. Ist hier die Dummheit nicht offensichtlich?

Wer zwang sie, etwas Falsches anzunehmen?“

Wie kommt man wohl dazu, sich von bekannten Daten überraschen zu lassen? Und für wen das gilt – wird der nicht ebenso überrascht sein, wenn das Alter mit 800 eintritt, und es dann ebenso beschwerlich finden wie jetzt mit 80?

Damit hat Cato sein Publikum erwischt. Die meisten werden nicht allmählich, sondern plötzlich alt. Was könnte wohl dümmer sein? Und welchem Alterskläger ist es nicht so ergangen? Jetzt nicken die Köpfe. Der Redner hat sein Ziel erreicht und das Publikum zur ersten Zustimmung bewogen. Was eben noch mehr Verblüffung und ein nur halbherziges Ja zu logischer Richtigkeit war („ja, stimmt schon, kann man als Wende sehen“), das kriegt jetzt den Charakter eines Geständnisses. „Oh ja, das muss ich zugeben, so ist es mir ergangen. Und natürlich war es dumm.“

An diesem Punkt schließt Cato dann sein Credo als Lehre an: „der Natur als beste Führerin“ zu folgen. Es muss

„… zwangsläufig irgendein Ende geben und, wie bei den Beeren der Bäume und den Früchten der Erde zur Reifezeit, gleichsam etwas Verwelktes und Hinfälliges, was ein Weiser mit Gelassenheit ertragen sollte.“

Wie die späteren Ausführungen zeigen, ist „ertragen“ dabei kein Plädoyer für Passivität, sondern meint, das Alter aktiv anzunehmen. Die Alten sollen tätig bleiben. Aber eben ohne Klage, sondern in Einsicht in den naturnotwendigen Gang der Dinge, dass ihre Kräfte nachlassen.

In dem Naturbild ist das Alter jetzt ein Lebensabend und man konnte es morgens und mittags wissen, dass es einen Abend geben wird. Wie kommt es, dass es die meisten doch überrascht? Auch mit der Frage hält sich Cato nicht weiter auf. Das Phänomen selber ist ihm nicht wichtig. Es ging um den Effekt im Publikum. Und den hat er erreicht.

 

Der Winkeladvokat als Tugendlehrer

Außerhalb des imaginären Gerichtsverfahrens sehen die Dinge anders aus. Morgen und übermorgen werden die nächsten überraschend 60. Weil sie das Alter verdrängt haben. Verdrängt, weil es ängstigt. Das Verblüffende ist, dass Cicero ausgerechnet diese Verdrängung, also massive Altersängste als Argument gegen die Alterskläger nutzt! Zwei Sätze nach seiner Behauptung, dass alle alt werden wollen, benutzt er die Wahrheit: dass niemand alt werden will.

Ein konstruierter Scheinwiderspruch und eine echte Lebenslüge – und schon wird dir aus der Wahrheit, dass du Angst vorm Alter hast, erwiesen, dass es falsch ist, Angst vorm Alter zu haben.

Kann das funktionieren? Ja, aber hauptsächlich nur für diejenigen, die schon alt sind. Die anderen hören sich das erst gar nicht an und lassen sich sozusagen überraschen. Die Alten aber müssen sich mit den Alterserscheinungen auseinandersetzen. Sie klagen ja, weil sie nicht zurecht kommen. Das heißt zugleich aber auch – und darauf setzt der Anwalt! – dass da ein Bedürfnis ist, mit dem Alter seinen Frieden zu machen. Für dieses Bedürfnis gibt es hier ein Angebot.

In der Schrift kommt dieses Angebot voller Winkelzüge daher. Was eben benutzt wurde, ist gleich darauf ins Gegenteil gewendet. In einem Moment ist die Rede eine Art Einübung, eine Meditation mit den Mantras von Früchten und Beeren, Reife und Gelassenheit. Es wabert Herbst und Abende. Im nächsten Moment landen wir in Heldenerzählungen von Alten, die militärische Glanzleistungen vollbringen. Und dann wieder werden Kläger lächerlich gemacht und ehemalige Konsuln an ihrer Ehre gepackt und „dumm“ genannt.

Alles ohne ernsthafte Gegenrede. Juristisch nicht weiter schlimm, weil am Ende des imaginären Prozesses ja auch keine Abstimmung stattfindet und kein Urteil gesprochen wird. Die Abwägung des Für und Wider findet in jedem einzelnen Zuhörer (bzw. Leser) statt – und die meisten hören dankbar zu, ein paar gute Tipps und Entgegnungen für die Zweifel des Alltags erhalten zu haben.

Der Zweck der Schrift ist Tugendmahnung und Beschwörung des Altehrwürdigen. Die Angesprochenen sind die Herrschenden in Rom – und auf die gemünzt heißt das Ganze etwa:

„Ihr seid die Herren der Welt! Ihr habt alles zur Verfügung, was Menschen haben können. Euch ging’s ein Leben lang gut und ihr habt ein langes Leben gewollt. Jetzt, wo ihr alt seid, lasst ihr euch gehen und jammert herum? Das ist abartig. Richtet euch gefälligst auf!“

 

Cato, das Altenideal – Cicero über das Alter, Teil 2

Ciceros Schrift trägt den Titel „Cato maior de senectute“ („Cato der Ältere über das Greisenalter“). Als Klassik-Gut wird sie dagegen oft schlicht „De senectute“ und deutsch „Über das Alter“ genannt . So z.B. der Titel der Reclam-Ausgabe von 1998, die mir untergekommen ist. Das führt allerdings dreifach aufs falsche Gleis:

– Erstens geht der Charakter der Rede verloren, die Cicero für den Hauptteil seiner Schrift wählt. Cicero legt seine Ansichten dem 84jährigen römischen Muster-Konservativen Cato dem Älteren in den Mund. Catos Rede antwortet auf fiktive Fragen der Freunde Laelius und Scipio, die damit die Ansprechpartner der Rede darstellen und für das angezielte Publikum stehen. Das ist ein herausragender Adressatenkreis: Senatoren, Konsuln, Feldherren und Bankiers – die Herrschenden in Rom. Männer.

– Zweitens wird dem Thema eine sozusagen moderne Unschärfe untergeschoben, indem eine gesonderte Alterstufe, das Greisenalter, mit dem Alter schlechthin gleichgesetzt wird. Senectute steht für die Lebenszeit nach der Ämterlaufbahn. Das ist nicht einfach nur eine Zeit des drohenden körperlichen Verfalls, sondern für die hier Angesprochenen der Schrecken des erzwungenen Abschieds von Posten und Ehren. Das zentrale Altersproblem der Herrschenden: Abschied von der Macht.

– Und drittens steigt man so schnell auf der falschen Etage aus der Zeitmaschine. Mit der fiktiven Dialogsituation, in der Cicero hier Cato reden lässt, werden wir aus Ciceros Gegenwart nochmal um mehr als hundert Jahre zurückgeschickt. Mit dem 84jährigen Cato dem Älteren sind wir im Jahr 150 v. Chr. – die „gute alte Zeit“ der römischen Republik. Weit vor den Bürgerkriegen und dem Machtanspruch der jungen Feldherren, mit der die Republik in Ciceros Gegenwart zu Ende geht.

So ist die klassische Erörterung über das Alter im Original das Fake einer klassischen Erörterung. Der klassisch alte Alte, der hier über das Alter spricht, lässt einen klassisch alten Alten für sich sprechen.

Tatsächlich ist die Schrift eine Art politisches Wunschkonzert: Lasst uns die alten politischen Strukturen im Geist der alten römischen Tugenden bewahren, erneuert nur um die Früchte der griechischen Kultur! Catos fiktive Rede ist ein beständiger Zeigefinger; Tugendmahnung und Streit gegen die Auswüchse einer hedonistischen Kultur.

Das macht insofern Sinn, als es für Cicero hauptsächlich auf die Adressaten im Senatorenumkreis ankommt. Sie alle sind auch durch Caesars Diktatur mehr oder minder aufs politische Altenteil geschoben und werden sich, beraubt an Macht und Ehre, die Frage des Alters zu stellen haben: wie geht es weiter? Was wird unsere Zukunft sein?

Während seine politischen Freunde schon die Ermordung Caesars planen, entwirft Cicero ein geistiges Reformprogramm für die konservativen Eliten.

 

(Für den folgenden Durchgang durch den Text verwende ich die eben erwähnte Reclam-Ausgabe. Sie hat den Vorteil, den lateinischen Text der deutschen Übersetzung gegen-überzusetzen; sie ist im Deutschen weniger altertümelnd und schwerfällig als die Übertragung bei Gottwein – die ebenfalls Latein und Deutsch gegenübersetzt – und sie nährt vor allem meinen beständigen Argwohn, der Übersetzung nicht einfach trauen zu dürfen. In Zweifelsfällen erlaube ich mir, eigene Übersetzungen beizufügen. Wer mag, kann sie online mit der Version bei lateinlehrer.de oder der englischen bei Bartleby.com konfrontieren; letztere ist übrigens mit verkürztem Titel in den Kanon der „Harvard Classics“ aufgenommen. Thelatinlibrary.com bietet den lateinischen Text in großer Schrift, was bei Anpassung der Fensterbreite vielleicht am angenehmsten zu lesen ist; kaum lesbare Faksimiles sind ja nicht unbedingt die angemessenste Form lateinischer Texte.)

 

Caesar über allem

Den Geschichtsschreibern und seinen Biographen zufolge war Cicero in das Komplott zur Ermordung Caesars nicht eingeweiht. Um so bemerkenswerter, dass die Schrift mit der Andeutung eines Hinterhalts beginnt. Das erste Wort ist ein Zitat aus den Annalen des Ennius, wo ein Hirte dem Feldherren Titus Flaminius einen geheimen Weg anbietet, den Gegner von hinten angreifen zu können:

"Titus, wenn ich dir helfe und dich von einer Sorge befreie,
die dich nun ängstigt und tief im Herzen dir Qualen bereitet,
winkt mir dann wohl ein Lohn?"

Aber macht das Sinn, damit eine Schrift über das Alter zu eröffnen? Wenn es gilt, das Alter als naturgemäße Lebensphase anzunehmen, beginnt man das günstig mit dem Gedanken an einen Angriff aus dem Hinterhalt? Oder will man glauben, einer der bedeutendsten Redner und Anwälte aller Zeiten hätte sich hier im Zitat vergriffen? Er hätte sich eines römischen Klassikers (des römischen Klassikers vor Vergils Aeneas) auf eine nur ganz oberflächlichen und banalen Weise bedient und den Sinngehalt der Stelle verkannt?

Dann allerdings müsste man auch glauben, dass er sich ebenso in der Wahl seiner Titelfigur vergriffen habe. Denn Marcus Porcius Cato war nicht nur der Name eines verehrten Konservativen aus der Vorzeit der römischen Bürgerkriege, sondern auch der Name von Caesars entschiedenstem Gegner. Cato der Jüngere, wie er zur Unterscheidung genannt wurde, war über lange Zeit einer der bedeutendsten  Gegenspieler Caesars und die herausragende Persönlichkeit im republikanischen Restheer, das Caesar im April 46 vernichtend geschlagen hatte. Um Caesar nicht in die Hände zu fallen, wählte Cato in der Niederlage den Freitod – und wurde auch damit zu einem Märtyrer der untergehenden Republik. Dieser Cato der Jüngere galt allen Beobachtern als Wiederverkörperung der Tugenden seines Urgroßvaters. Wenn aber des Alten Tugenden jetzt gerühmt werden, wird dann hier nicht ein Geist des Widerstands beschworen?

Jeder zeitgenössische Leser musste den Titel der Schrift so lesen. Und erwarten, dass hier im Denken über das Alter der alten Verhältnisse gedacht wird und dessen Helden ein Denkmal errichtet. Mit dem Dichter-Zitat als Einstieg bestätigt Cicero das. Mit dem Gedanken an einen Hinterhalt werden Hintergedanken an Caesar eingeführt. Die Last der Tyrannei steht hinter der Last des Alters … und die ist die eigentliche Aufgabe.

Ich weiß, äußert Cicero als Vermutung über den Freund „dass dich zuweilen dieselbe Dinge bedrücken wie mich selbst„. Aber diese „anspruchsvolleren Aufgaben“ müssen „auf einen anderen Zeitpunkt verschoben werden„.

(rebus quibus me ipsum interdum gravius commoveri; quarum consolatio et maior est et in aliud tempus differenda – Dinge, die mich selber bisweilen schwer bedrücken; deren Tröstung bedeutender ist und auf eine andere Zeit verschoben werden muss)

Jetzt aber halte ich es für richtig, eine Schrift über das Alter für dich zu verfassen. Von dieser Last, die mir mit dir gemeinsam ist, der Last des Alters, die schon herandrängt oder jedenfalls näher rückt, möchte ich nämlich dich und mich selbst erleichtert sehen.“ (1f.)

Caesar und das Alter sind „Lasten“, die alle angehn. Aber während die größere Aufgabe, die politische, jetzt nicht angegangen werden kann, ist es doch machbar, sich von der Last des Alters zu erleichtern.

Wie? Was? Das Naturnotwendige besiegen wir gleich, das Politische ist schwieriger?

Man kann nicht ausschließen, dass dem Rhetoriker Cicero ein solches Paradox als Lagebeschreibung angemessen schien. Aber man ersieht daran auch seine Resignation. Seine Diagnose ist hier: politisch geht derzeit nichts; wir müssen auf langfristige (Überzeugungs-) Arbeit setzen.

Dazu ist die Schrift über das Alter ein Teil. Sie leistet zweierlei: zum einen wird sie eine klare Verherrlichung der alten Verhältnisse (mit ihrer Dominanz der Alten in der Republik). Und zum anderen leistet sie ein Stück Trauerarbeit, eine Eingewöhnung ins Zurücktreten. Samt Abschied von Amt und Macht. Zum  Umgang der Weisen mit den Dingen gehört, den Wechsel der Zeiten anzunehmen, und ebenso das Naturgemäße des Lebenslaufs. Und sich davon nicht unterkriegen lassen.

Die Haltung passt und illustriert Ciceros Abseits-Stellung vor den Iden des März. Dass er in die Verschwörung nicht eingeweiht wurde, hatte mit seinem schwankenden Verhalten während der vorausgegangenen Jahre des Bürgerkriegs zu tun. Nach der Ermordung Caesars ändert sich alles und Cicero wirft sich um so entschiedener gegen Marcus Antonius.

Die Schrift übers Alter aber hat er noch aus einer Sicht der politischen Ohnmacht verfasst. Das prägt ihre beständige Zwiespältigkeit:

  • „Philosophie statt Politik“ – aber beständig kriegerische Heldentaten der Alten rühmend,
  • „Akzeptanz dessen, was ist“ – aber beständig die alten Verhältnisse verherrlichend,
  • „Annahme des Alters“ – aber all seine Schwächen leugnend.
  • Ein Feldzug gegen Klagen – der selber von Anfang an als Klage auftritt.

 

Die Art der Weisen. Und ihre Armut

Es passt zu dieser Zwiespältigkeit, von der Natur des Menschen zu handeln, und die meisten Menschen auszuschließen. Cicero weiß, dass er den Armen nichts zu sagen hat. Er lässt das seinen Cato sogar noch aussprechen – um es gleich wieder zu vergessen.

Für seine klaglose Einstellung zum Alter bewundert, hatte Cato als erstes die Antwort, dass daran eigentlich gar nichts Erstaunliches und die Haltung auch nicht schwierig sei.

„Wer nämlich in sich selbst nicht die Voraussetzung dafür hat, gut und glücklich zu leben, für den ist jede Altersstufe bechwerlich. Wer aber alles Gute bei sich selbst sucht, dem kann nichts schlimm erscheinen, was die Naturnotwendigkeit ihm bringt.“ (4)

Aber was ist, wenn einer vergeblich sucht, weil ihm die Güter fehlen? Da könnte doch, lässt Cicero den Laelius nachfragen, „vielleicht jemand behaupten, dir scheine das Alter wegen deiner Mittel, deiner Möglichkeiten und deines Ranges leicht, und darüber könnten nicht viele verfügen„.

Ja – das lässt er gelten, der alte Cato. Bei völliger Mittellosigkeit kann das Alter nicht einmal für einen Weisen leicht sein.

„Nec enim in summa inopia levis esse senectus potest ne sapienti quidem, nec insipienti etiam in summa copia non gravis“ (8).- „In größter Armut kann das Greisenalter selbst für einen Weisen nicht leicht sein, noch für einen Dummen bei größtem Reichtum nicht unbeschwert“.

(Die Reclam-Ausgabe übersetzt in summa inopia statt „in größter Armut“ mit „in völliger Mittellosigkeit“; Gottwein zieht nebulös „Dürftigkeit“ vor.  Die englische Übersetzung bei Bartleby verfährt hier recht frei und dichtet noch was von Millionären hinzu: “ For the philosopher himself could not find old age easy to bear in the depths of poverty, nor the fool feel it anything but a burden though he were a millionaire“. )

Und was schließt Cato daraus? Gar nichts!

Er übergeht die Mittellosen sogleich wieder und setzt damit fort, die Tugenden und ihre Betätigung zu preisen. „Die besten Waffen gegen das Alter, Scipio und Laelius, sind überhaupt die Tugenden und ihre Betätigung. Zu jeder Lebenszeit geübt, bringen sie, wenn man lange gelebt hat, wunderbare Früchte …

Aber ja eben keine, die arme Tugendhafte essen könnten. Die „weisen Mittellosen“ sind schon nach einem Satz wieder vergessen. Das ganze Zugeständnis ist nur für die Pointe gegen die dummen Reichen da. Das ist der Punkt, um den sich alles dreht: das gute und das falsche Leben … unter denjenigen, auf die es ankommt.

Die Dummen, die hier an den Pranger kommen, sind dafür auch keine namenlosen Ungebildeten, sondern Senatoren und ehemalige Konsuln. Manchmal sogar zu Unrecht. Von den beiden erstgenannten Dummköpfen, die Cato über das Alter klagen lässt – „C.Salinator und Sp. Albinus, ehemalige Konsuln, die fast so alt wie ich sind“ -, hat Cicero den zweiten sehr viel älter werden lassen, als er wurde. „Sp. Albinus“ ist mit etwa 50 Jahren der Pest zum Opfer gefallen. Aber was tut’s! Wichtig ist, gute und schlechte Beispiele anzuführen – und dafür kommen nur die Herrschenden selber in Frage.

Alles andere ist für Cicero irrelevant. Er schreibt keine Erbauungsliteratur für jedermann. Dann müsste er natürlich etwas zu den Mittellosen sagen. Nein, Cicero schreibt an seinesgleichen. Etwas anderes macht politisch keinen Sinn. Und so fehlen dann wie selbstverständlich auch die Frauen. Selbst diejenigen in summa copia.

Es ist dementsprechend auch keine zufällige, willkürlich gewählte Form, wenn Cato seine Auffassung im Folgenden als Widerlegung von Klagen über das Alter ausführen lässt. Das hier ist eine Schrift die sich an die Elite der römischen Republik richtet: diejenigen, die für Cicero die Lösung des Caesar-Problems zu sein hätten.

Als moderne Leser kommen wir um den Begriff der Menschenrechte nicht herum und sind damit von Anfang an von Cicero getrennt. Man hat eigentlich nur die Wahl: die Schrift historisch zu lesen oder sie zur bloßen Erbauungsliteratur fürs Altersheim zu machen. – Ich komme darauf abschließend zurück. Zuvor aber noch ein Durchgang durch die Ausführungen im Detail. Die Schrift ist Geburtsort und Heimat manch vertrauter „Altersweiheit“: es macht schon Sinn, deren Herkunft zu kennen.

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Ciceros Schrift über das Alter
1: Der geköpfte Alte
2: Cato, das Altenideal
3: Klassische Altersklagen, klassisch abgetan
4: Weisheiten fürs Altenheim?

 

Der geköpfte Alte – Ciceros Schrift über das Alter, Teil 1

Die wohl berühmteste Schrift zur Philosophie des Alters verfasst Cicero 45/44 v.Chr. in einer für ihn erzwungenen politischen Kampfpause. Nach dem Sieg gegen Pompeius in der Schlacht von Pharsalos im August 48 wird Cäsar Alleinherrscher in Rom, und Cicero, im Senat einer der energischsten Vertreter der alten Republik, verlegt sich weitgehend aufs Schriftstellertum und die Philosophie. Als kleinere, wie zwischendurch eingeschobene Arbeit entsteht gegen Ende dieser Phase auch das  Buch Cato Maior de Senectute, „Cato der Ältere über das Greisenalter“.

Die Schrift ist dem Freund Atticus gewidmet und in der Vorrede nennt Cicero als Zweck, sich und den Freund von „der Last des herandrängenden Alters zu erleichtern“. So lässt sie sich als eine philosophische Bewältigung der Altersangst lesen. Klagen über das Alter werden in stoischer Weisheit widerlegt, als dumm und unbegründet erwiesen. Nicht jammern und klagen, sondern das Alter als Teil des Lebens annehmen und nach Vermögen das Beste daraus machen.

Dem Vermögen kommt darin schon eine wesentliche Rolle zu. Das Bild des angenehmen Alters beruht hier auf maßvoller körperlicher Tätigkeit auf dem eignen Landsitz, auf Bildung und geistigen Studien und auf einer sozialen Achtung, die vor allem in politischen Ämtern erworben wurden.

Zwei Jahre später steht Ciceros Name ganz oben auf den Todeslisten des neuen Triumvirats. Im Dezember 43 v. Chr. wird er auf der Flucht in Süditalien von einem Zenturio erschlagen und geköpft; der Leichnam später durch Rom geschleift und der Kopf des berühmtesten römischen Redners an der Rednertribüne des Forums befestigt.

Warum? Cicero hat sich nach Cäsars Ermordung mit Leidenschaft zurückgeworfen in die politischen Auseinandersetzungen. Obwohl (oder auch weil) er persönlich nicht beteiligt war an der Verschwörung ist er zum Wortführer im Senat und Verteidiger der Republik und zum entschiedensten Feind von Marcus Antonius geworden – auf dessen Betreiben dann Ciceros Name auf die Proskriptionslisten kam. Man muss hinzufügen, dass Cicero umgekehrt vielleicht ähnlich gehandelt hätte. Den Mördern Cäsars jedenfalls warf er vor, kindisch gehandelt zu haben, dass sie Marcus Antonius verschonten, statt ihn gleich mit Cäsar zu beseitigen.

Von diesem Zusammenhang ist in der Literatur über die Schrift so gut wie nichts zu erkennen. Es wird schlicht nicht erwähnt.  Die Gebildeten wissen es vielleicht. Die anderen brauchen nichts davon zu wissen: der klassische Humanist, Redner und Philosoph ist vom Politiker Cicero getrennt wie ein Kopf vom Körper.

 

Eine fortdauernde Trennung

Die ersten Jahrzehnte nach seiner Ermordung ist Ciceros Name unnennbar. Die spätere Wiedergeburt bei Seneca und anderen hält sich an den Philosophen und den herausragenden Redner im formalen Sinn, an Cicero als Sprachkünstler und Rhetoriker unabhängig von Sachpositionen. Ähnlich wird der heidnische Denker auch von den christlichen Kirchenväter geschätzt; was dazu beigetragen hat, dass Ciceros Werke und Briefe in ausnahmsweiser Fülle dem Bücherverlust in der Spätantike entgangen sind.

Unter den Gebildeten der Neuzeit ist De Senectute wieder sehr geschätzt. Sie wird etwa in den Kanon der Harvard Classics aufgenommen, und Jacob Grimm leitet seine „Rede über das Alter“ 1863 mit der Frage ein „Wer hat nicht Ciceros De Senectute gelesen?“.  Natürlich eine rhetorische Frage.  Natürlich unmöglich, im Saal jetzt den Finger zu heben. Das Ende der römischen Republik und die Zeit der Bürgerkriege aber sind kein Thema.  Wenn die Gegnerschaft zu Caesar erinnert wird, dann mit einer deutlichen Herabsetzung Ciceros; mit Angriffen auch auf die persönliche moralische Integrität, wie beim Historiker Theodor Mommsen.

Der Körper ist geschleift. Wir haben nur den Kopf. Und lesen die Schrift als Erbauungsliteratur für jedermann.

Aber nein, man kann sie schon auch anders lesen. Manche Beschönigung darin ist schwer erträglich, aber ihre größten Schwächen gehören noch zu einer Verteidigung der römischen Republik.

Cicero hat nicht ein Wort darin für das Altern des einfachen Volks. Von Sklaven ganz zu schweigen. Und von Frauen wird geschwiegen. Es ist alles darin nur für Seinesgleichen, für die Herrschenden Roms. Es ist, wie Simone de Beauvoir zuspitzt, eine Verteidigung der alten Verhältnissen und der Macht der Alten gegen ihre Bedrohung  durch die jungen Feldherren. „Als Senator verfasst er [Cicero], 63 Jahre alt, eine Verteidigung des Alters, um zu beweisen, dass die seit langem erschütterte Autorität des Senats wieder gestärkt werden müsse.“

Das ist bei Cicero so nicht formuliert und zu Caesars Lebzeiten auch kaum formulierbar. Aber Cicero geht schon nahe heran. Vom ersten Wort an spricht die Schrift zu den von Caesar aufs Altenteil geschobenen alten Herren Roms, die für Cicero das Potenzial des Widerstands gegen die Wiedergeburt des Königtums in Rom bilden. Die Schrift ist sichtbar als Beitrag zu einer konservativen Erneuerung der römischen Elite angelegt: Eine Tugendmahnung im Geiste des alten Roms. Das Lob des Alters ist ein widerborstiges Lob des Alten.

Da spricht einer, der sich mit der Entmachtung des Senats nicht abfinden will. Cicero beweist das in der Tat. Darum wird sein Kopf an der Rednertribüne hängen.

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Ciceros Schrift über das Alter
1: Der geköpfte Alte
2: Cato, das Altenideal
3: Klassische Altersklagen, klassisch abgetan
4: Weisheiten fürs Altenheim?