Alle wollen alt werden, aber niemand alt sein – Cicero über das Alter, Teil 3

Unter den „Weisheiten übers Alter“ ist das ein Klassiker.  Klassisch geprägt hat Cicero diese Münze, indem er es seinen  Redner Cato als Ausgangspunkt zur Widerlegung von Altersklagen nehmen lässt.

 

Die Frage des Alters als Gerichtsverhandlung

Cicero lässt Cato sich für das Lob bedanken, sein Alter in Würde zu tragen, und sogleich zieht er gegen Klagende zu Felde, indem er vom Alter behauptet:

quam ut adipiscantur omnes optant, eandem accusant adepti; tanta est stultitiae inconstantia atque perversitas

Die Reclam-Ausgabe übersetzt:

„alle wünschen, dass sie es erreichen, doch wenn es erreicht ist, klagen sie es an; so unbeständig und abartig ist die Dummheit“

Wäre der Zusatz von der „Dummheit“ nicht da, dann könnte das Wünschen und Klagen schon auch eine schlichte Beschreibung über den gewöhnlichen Lauf der Dinge sein. Man wünscht sich, lange zu leben und hat dann aber über die letzte Phase doch Grund zu klagen. Ist doch „normal“, oder? Man wird nicht seinen Lebenswillen aufgeben und vorzeitig Schluss machen, weil das Alter so beschwerlich ist. Und soll man im Alter dann so tun als wäre nichts? Soll man die lächerliche Figur abgeben, Kräfteverfall und Gebrechen zu leugnen, die lüsternen Greis*innen und prahlerischen Alten zu geben? Oder aber wie alte Beeren den Rest der Zeit still am Baum verdorren?

Aber Cato nennt das Klagen eine Dummheit. Was genau meint er? Und was soll sogar „abartig“ daran sein, über die Gebrechen des Alters zu klagen? Wenn es Reichtum wäre, würden wir die Klagen ja schnell als „abartig“ akzeptieren. Reich werden wollen, und dann darüber klagen? Da hieße es „Deine Sorgen möcht ich haben!“ Beim Alter aber eher nicht. Das liegt doch wohl an der Sache, oder?

Wer immer die genannte Weisheit übers Alter hört, spürt einen rhetorischen Trick am Werk. Da werden Sätze über das Alter so zusammengefügt, dass sie einen Widerspruch ergeben. Man erwehrt sich des Tricks, indem man das Altwerden-Wollen als bloßes Sprachspiel durchschaut:  „Ach geh, dass ich nicht vorher abkratzen will, heißt noch lange nicht, mich aufs Altsein zu freuen!“ Tatsächlich gehört der Wunsch, alt werden zu wollen, zur Untergattung der Wünsche, mit denen man sich für gewöhnlich weniger hingebungsvoll befasst. Wie oft wacht man morgens auf mit einem glücklichen „oh, wie schön, im Traum war ich alt“?

Das sagt vielleicht, wer dann zur Arbeit muss und nicht mag. Der „Ruhestand“  als aktiv genießbare und selbst gestaltbare Zeit, als verlängerte Ferien am Lebensabend, die sogar zum „neuen Leben“ ausgebaut werden können: ja, das kann ein Gegenstand des Wünschens sein. Aber das ist eine moderne Errungenschaft, von der Cicero nichts weiß und die Schrift nicht handelt.

Für Cicero ist das Alter tatsächlich eine „herandrängende Last“, wie er eingangs schreibt; eine Sorge, mit der man sich ernsthaft beschäftigt und beschäftigen muss. Er tut es hier – und er tut es als Anwalt. Der „rhetorische Trick“ kommt nicht von ungefähr: Cicero ist Anwalt. Der bekannteste und erfolgreichste seiner Zeit und als Redner und Lehrer der Rhetorik einer der bedeutendsten aller Zeiten. Subjektiv macht er das, was jedem zu empfehlen ist, der sich mit dieser herandrängenden Last zu befassen hat: er mobilisiert seine besten Fähigkeiten, um sich der Aufgabe zu stellen. Er geht sie als Anwalt an und entwickelt eine Gerichtstaktik für den besonderen Fall. Das römische Volk gegen das Alter, verteidigt von Marcus Tullius Cicero alias Cato, der Ältere.

In Ciceros Szene agiert ein Profi vor Gericht. Als erstes schaut er sich die Geschworenen an. Wer sitzt hier und hat eine Stimme im Prozess? Alte, einflussreiche Männer. Keine jungen Männer, die das „jeder will alt werden“ gleich auslachen würden. Sondern schon alt gewordene. Sie haben leben und älter werden wollen. Der Verteidger erwischt sie bei dem Widerspruch, dass sie das, was sie jetzt sind, ja schon tatsächlich gewollt haben und sich nun dennoch drüber beklagen.

Wenn man das „Klagen“ juristisch nimmt, dann stimmt da wirklich was nicht zusammen: du kannst keinen Prozess gegen etwas führen, dass du selber Tag für Tag als Absicht  verfolgt hast!

Und Cicero belegt das auch nicht einfach mit Schimpfworten, sondern er arbeitet den Widerspruch heraus: „tanta est stultitiae inconstantia“. Wörtlich übersetzt: so groß ist die Unbeständigkeit der Torheit. „Unbeständig“ ist hier erstmal ein Wort, das als sachliche Beschreibung gerechtfertigt ist. Der frühere Blick ist ja aufgegeben und durch etwas anderes ersetzt worden.

Und kann man das Klagen nicht auch als eine Umkehr der Ansicht verstehen? Genau das betont das angeschlossene „atque perversitas“. Perversitas heißt wörtlich „Verkehrtheit“ und meint eine Richtungsänderung im Sinne der „um 180° gedrehten Anschauung“. Auch das ist ja durch die Beschreibung  gedeckt – und führt aber die Bewertung des sittlichen Verkehrten im Schilde. Die Umkehr wird zum falschen Weg.

(Weil die Übersetzer der Schrift meist immer schon auf seiner Seite sind, fällt es ihnen manchmal schwer, das Herausarbeiten von Bedeutungen wiederzugeben. So wird in der Reclam-Übersetzung perversitas überdeutlich mit „abartig“ wiedergegeben und Ciceros Arbeiten an Zustimmung in die Nähe eines bloßen Schimpfens verschoben. Ähnlich auch die Harvard-Übersetzung; Gottwein und lateinlehrer.de bleiben dagegen beim wörtlichen „Verkehrtheit“.)

So weit, so schlau, könnte man sagen. Aber wie sehr überzeugt das? Sollte man nicht vielleicht eher sagen, dass die Alten zur Einsicht Gekommene sind? Sie haben früher nur kenntnislos über das Alter gesprochen. Als Jugendliche war nur Wachstum der Kräfte ein Thema; und auf der Karriereleiter hatten sie mit anderem zu tun: Spiele organisieren, um das nötige Ansehen für die Ämterwahlen zu gewinnen; sich in den Ämter bewähren, anschließend als Statthalter Provinzen regieren und dort Reichtümer anhäufen. Bevor du noch viel gedanklich begreifst, bist du schon alt geworden und plötzlich sehen die Dinge anders aus. Die Umkehr in der Ansicht ist also vielleicht sachlich angemessen. Nicht dumm, sondern im Gegenteil das Ende der Dummheit. Oder?

Aber der Redner lässt seinem Publikum keine Zeit, die Sache zu bedenken und geht gleich über zur nächsten Vorführung, wie dumm die Klagenden sind.

 

Wer „plötzlich“ 60 wird, hat zwischendurch das Zählen vergessen

Die Klagenden sagen, behauptet Cato nun, das Alter nähere sich schneller als sie angenommen hätten. Ist hier die Dummheit nicht offensichtlich?

Wer zwang sie, etwas Falsches anzunehmen?“

Wie kommt man wohl dazu, sich von bekannten Daten überraschen zu lassen? Und für wen das gilt – wird der nicht ebenso überrascht sein, wenn das Alter mit 800 eintritt, und es dann ebenso beschwerlich finden wie jetzt mit 80?

Damit hat Cato sein Publikum erwischt. Die meisten werden nicht allmählich, sondern plötzlich alt. Was könnte wohl dümmer sein? Und welchem Alterskläger ist es nicht so ergangen? Jetzt nicken die Köpfe. Der Redner hat sein Ziel erreicht und das Publikum zur ersten Zustimmung bewogen. Was eben noch mehr Verblüffung und ein nur halbherziges Ja zu logischer Richtigkeit war („ja, stimmt schon, kann man als Wende sehen“), das kriegt jetzt den Charakter eines Geständnisses. „Oh ja, das muss ich zugeben, so ist es mir ergangen. Und natürlich war es dumm.“

An diesem Punkt schließt Cato dann sein Credo als Lehre an: „der Natur als beste Führerin“ zu folgen. Es muss

„… zwangsläufig irgendein Ende geben und, wie bei den Beeren der Bäume und den Früchten der Erde zur Reifezeit, gleichsam etwas Verwelktes und Hinfälliges, was ein Weiser mit Gelassenheit ertragen sollte.“

Wie die späteren Ausführungen zeigen, ist „ertragen“ dabei kein Plädoyer für Passivität, sondern meint, das Alter aktiv anzunehmen. Die Alten sollen tätig bleiben. Aber eben ohne Klage, sondern in Einsicht in den naturnotwendigen Gang der Dinge, dass ihre Kräfte nachlassen.

In dem Naturbild ist das Alter jetzt ein Lebensabend und man konnte es morgens und mittags wissen, dass es einen Abend geben wird. Wie kommt es, dass es die meisten doch überrascht? Auch mit der Frage hält sich Cato nicht weiter auf. Das Phänomen selber ist ihm nicht wichtig. Es ging um den Effekt im Publikum. Und den hat er erreicht.

 

Der Winkeladvokat als Tugendlehrer

Außerhalb des imaginären Gerichtsverfahrens sehen die Dinge anders aus. Morgen und übermorgen werden die nächsten überraschend 60. Weil sie das Alter verdrängt haben. Verdrängt, weil es ängstigt. Das Verblüffende ist, dass Cicero ausgerechnet diese Verdrängung, also massive Altersängste als Argument gegen die Alterskläger nutzt! Zwei Sätze nach seiner Behauptung, dass alle alt werden wollen, benutzt er die Wahrheit: dass niemand alt werden will.

Ein konstruierter Scheinwiderspruch und eine echte Lebenslüge – und schon wird dir aus der Wahrheit, dass du Angst vorm Alter hast, erwiesen, dass es falsch ist, Angst vorm Alter zu haben.

Kann das funktionieren? Ja, aber hauptsächlich nur für diejenigen, die schon alt sind. Die anderen hören sich das erst gar nicht an und lassen sich sozusagen überraschen. Die Alten aber müssen sich mit den Alterserscheinungen auseinandersetzen. Sie klagen ja, weil sie nicht zurecht kommen. Das heißt zugleich aber auch – und darauf setzt der Anwalt! – dass da ein Bedürfnis ist, mit dem Alter seinen Frieden zu machen. Für dieses Bedürfnis gibt es hier ein Angebot.

In der Schrift kommt dieses Angebot voller Winkelzüge daher. Was eben benutzt wurde, ist gleich darauf ins Gegenteil gewendet. In einem Moment ist die Rede eine Art Einübung, eine Meditation mit den Mantras von Früchten und Beeren, Reife und Gelassenheit. Es wabert Herbst und Abende. Im nächsten Moment landen wir in Heldenerzählungen von Alten, die militärische Glanzleistungen vollbringen. Und dann wieder werden Kläger lächerlich gemacht und ehemalige Konsuln an ihrer Ehre gepackt und „dumm“ genannt.

Alles ohne ernsthafte Gegenrede. Juristisch nicht weiter schlimm, weil am Ende des imaginären Prozesses ja auch keine Abstimmung stattfindet und kein Urteil gesprochen wird. Die Abwägung des Für und Wider findet in jedem einzelnen Zuhörer (bzw. Leser) statt – und die meisten hören dankbar zu, ein paar gute Tipps und Entgegnungen für die Zweifel des Alltags erhalten zu haben.

Der Zweck der Schrift ist Tugendmahnung und Beschwörung des Altehrwürdigen. Die Angesprochenen sind die Herrschenden in Rom – und auf die gemünzt heißt das Ganze etwa:

„Ihr seid die Herren der Welt! Ihr habt alles zur Verfügung, was Menschen haben können. Euch ging’s ein Leben lang gut und ihr habt ein langes Leben gewollt. Jetzt, wo ihr alt seid, lasst ihr euch gehen und jammert herum? Das ist abartig. Richtet euch gefälligst auf!“

 

Cato, das Altenideal – Cicero über das Alter, Teil 2

Ciceros Schrift trägt den Titel „Cato maior de senectute“ („Cato der Ältere über das Greisenalter“). Als Klassik-Gut wird sie dagegen oft schlicht „De senectute“ und deutsch „Über das Alter“ genannt . So z.B. der Titel der Reclam-Ausgabe von 1998, die mir untergekommen ist. Das führt allerdings dreifach aufs falsche Gleis:

– Erstens geht der Charakter der Rede verloren, die Cicero für den Hauptteil seiner Schrift wählt. Cicero legt seine Ansichten dem 84jährigen römischen Muster-Konservativen Cato dem Älteren in den Mund. Catos Rede antwortet auf fiktive Fragen der Freunde Laelius und Scipio, die damit die Ansprechpartner der Rede darstellen und für das angezielte Publikum stehen. Das ist ein herausragender Adressatenkreis: Senatoren, Konsuln, Feldherren und Bankiers – die Herrschenden in Rom. Männer.

– Zweitens wird dem Thema eine sozusagen moderne Unschärfe untergeschoben, indem eine gesonderte Alterstufe, das Greisenalter, mit dem Alter schlechthin gleichgesetzt wird. Senectute steht für die Lebenszeit nach der Ämterlaufbahn. Das ist nicht einfach nur eine Zeit des drohenden körperlichen Verfalls, sondern für die hier Angesprochenen der Schrecken des erzwungenen Abschieds von Posten und Ehren. Das zentrale Altersproblem der Herrschenden: Abschied von der Macht.

– Und drittens steigt man so schnell auf der falschen Etage aus der Zeitmaschine. Mit der fiktiven Dialogsituation, in der Cicero hier Cato reden lässt, werden wir aus Ciceros Gegenwart nochmal um mehr als hundert Jahre zurückgeschickt. Mit dem 84jährigen Cato dem Älteren sind wir im Jahr 150 v. Chr. – die „gute alte Zeit“ der römischen Republik. Weit vor den Bürgerkriegen und dem Machtanspruch der jungen Feldherren, mit der die Republik in Ciceros Gegenwart zu Ende geht.

So ist die klassische Erörterung über das Alter im Original das Fake einer klassischen Erörterung. Der klassisch alte Alte, der hier über das Alter spricht, lässt einen klassisch alten Alten für sich sprechen.

Tatsächlich ist die Schrift eine Art politisches Wunschkonzert: Lasst uns die alten politischen Strukturen im Geist der alten römischen Tugenden bewahren, erneuert nur um die Früchte der griechischen Kultur! Catos fiktive Rede ist ein beständiger Zeigefinger; Tugendmahnung und Streit gegen die Auswüchse einer hedonistischen Kultur.

Das macht insofern Sinn, als es für Cicero hauptsächlich auf die Adressaten im Senatorenumkreis ankommt. Sie alle sind auch durch Caesars Diktatur mehr oder minder aufs politische Altenteil geschoben und werden sich, beraubt an Macht und Ehre, die Frage des Alters zu stellen haben: wie geht es weiter? Was wird unsere Zukunft sein?

Während seine politischen Freunde schon die Ermordung Caesars planen, entwirft Cicero ein geistiges Reformprogramm für die konservativen Eliten.

 

(Für den folgenden Durchgang durch den Text verwende ich die eben erwähnte Reclam-Ausgabe. Sie hat den Vorteil, den lateinischen Text der deutschen Übersetzung gegen-überzusetzen; sie ist im Deutschen weniger altertümelnd und schwerfällig als die Übertragung bei Gottwein – die ebenfalls Latein und Deutsch gegenübersetzt – und sie nährt vor allem meinen beständigen Argwohn, der Übersetzung nicht einfach trauen zu dürfen. In Zweifelsfällen erlaube ich mir, eigene Übersetzungen beizufügen. Wer mag, kann sie online mit der Version bei lateinlehrer.de oder der englischen bei Bartleby.com konfrontieren; letztere ist übrigens mit verkürztem Titel in den Kanon der „Harvard Classics“ aufgenommen. Thelatinlibrary.com bietet den lateinischen Text in großer Schrift, was bei Anpassung der Fensterbreite vielleicht am angenehmsten zu lesen ist; kaum lesbare Faksimiles sind ja nicht unbedingt die angemessenste Form lateinischer Texte.)

 

Caesar über allem

Den Geschichtsschreibern und seinen Biographen zufolge war Cicero in das Komplott zur Ermordung Caesars nicht eingeweiht. Um so bemerkenswerter, dass die Schrift mit der Andeutung eines Hinterhalts beginnt. Das erste Wort ist ein Zitat aus den Annalen des Ennius, wo ein Hirte dem Feldherren Titus Flaminius einen geheimen Weg anbietet, den Gegner von hinten angreifen zu können:

"Titus, wenn ich dir helfe und dich von einer Sorge befreie,
die dich nun ängstigt und tief im Herzen dir Qualen bereitet,
winkt mir dann wohl ein Lohn?"

Aber macht das Sinn, damit eine Schrift über das Alter zu eröffnen? Wenn es gilt, das Alter als naturgemäße Lebensphase anzunehmen, beginnt man das günstig mit dem Gedanken an einen Angriff aus dem Hinterhalt? Oder will man glauben, einer der bedeutendsten Redner und Anwälte aller Zeiten hätte sich hier im Zitat vergriffen? Er hätte sich eines römischen Klassikers (des römischen Klassikers vor Vergils Aeneas) auf eine nur ganz oberflächlichen und banalen Weise bedient und den Sinngehalt der Stelle verkannt?

Dann allerdings müsste man auch glauben, dass er sich ebenso in der Wahl seiner Titelfigur vergriffen habe. Denn Marcus Porcius Cato war nicht nur der Name eines verehrten Konservativen aus der Vorzeit der römischen Bürgerkriege, sondern auch der Name von Caesars entschiedenstem Gegner. Cato der Jüngere, wie er zur Unterscheidung genannt wurde, war über lange Zeit einer der bedeutendsten  Gegenspieler Caesars und die herausragende Persönlichkeit im republikanischen Restheer, das Caesar im April 46 vernichtend geschlagen hatte. Um Caesar nicht in die Hände zu fallen, wählte Cato in der Niederlage den Freitod – und wurde auch damit zu einem Märtyrer der untergehenden Republik. Dieser Cato der Jüngere galt allen Beobachtern als Wiederverkörperung der Tugenden seines Urgroßvaters. Wenn aber des Alten Tugenden jetzt gerühmt werden, wird dann hier nicht ein Geist des Widerstands beschworen?

Jeder zeitgenössische Leser musste den Titel der Schrift so lesen. Und erwarten, dass hier im Denken über das Alter der alten Verhältnisse gedacht wird und dessen Helden ein Denkmal errichtet. Mit dem Dichter-Zitat als Einstieg bestätigt Cicero das. Mit dem Gedanken an einen Hinterhalt werden Hintergedanken an Caesar eingeführt. Die Last der Tyrannei steht hinter der Last des Alters … und die ist die eigentliche Aufgabe.

Ich weiß, äußert Cicero als Vermutung über den Freund „dass dich zuweilen dieselbe Dinge bedrücken wie mich selbst„. Aber diese „anspruchsvolleren Aufgaben“ müssen „auf einen anderen Zeitpunkt verschoben werden„.

(rebus quibus me ipsum interdum gravius commoveri; quarum consolatio et maior est et in aliud tempus differenda – Dinge, die mich selber bisweilen schwer bedrücken; deren Tröstung bedeutender ist und auf eine andere Zeit verschoben werden muss)

Jetzt aber halte ich es für richtig, eine Schrift über das Alter für dich zu verfassen. Von dieser Last, die mir mit dir gemeinsam ist, der Last des Alters, die schon herandrängt oder jedenfalls näher rückt, möchte ich nämlich dich und mich selbst erleichtert sehen.“ (1f.)

Caesar und das Alter sind „Lasten“, die alle angehn. Aber während die größere Aufgabe, die politische, jetzt nicht angegangen werden kann, ist es doch machbar, sich von der Last des Alters zu erleichtern.

Wie? Was? Das Naturnotwendige besiegen wir gleich, das Politische ist schwieriger?

Man kann nicht ausschließen, dass dem Rhetoriker Cicero ein solches Paradox als Lagebeschreibung angemessen schien. Aber man ersieht daran auch seine Resignation. Seine Diagnose ist hier: politisch geht derzeit nichts; wir müssen auf langfristige (Überzeugungs-) Arbeit setzen.

Dazu ist die Schrift über das Alter ein Teil. Sie leistet zweierlei: zum einen wird sie eine klare Verherrlichung der alten Verhältnisse (mit ihrer Dominanz der Alten in der Republik). Und zum anderen leistet sie ein Stück Trauerarbeit, eine Eingewöhnung ins Zurücktreten. Samt Abschied von Amt und Macht. Zum  Umgang der Weisen mit den Dingen gehört, den Wechsel der Zeiten anzunehmen, und ebenso das Naturgemäße des Lebenslaufs. Und sich davon nicht unterkriegen lassen.

Die Haltung passt und illustriert Ciceros Abseits-Stellung vor den Iden des März. Dass er in die Verschwörung nicht eingeweiht wurde, hatte mit seinem schwankenden Verhalten während der vorausgegangenen Jahre des Bürgerkriegs zu tun. Nach der Ermordung Caesars ändert sich alles und Cicero wirft sich um so entschiedener gegen Marcus Antonius.

Die Schrift übers Alter aber hat er noch aus einer Sicht der politischen Ohnmacht verfasst. Das prägt ihre beständige Zwiespältigkeit:

  • „Philosophie statt Politik“ – aber beständig kriegerische Heldentaten der Alten rühmend,
  • „Akzeptanz dessen, was ist“ – aber beständig die alten Verhältnisse verherrlichend,
  • „Annahme des Alters“ – aber all seine Schwächen leugnend.
  • Ein Feldzug gegen Klagen – der selber von Anfang an als Klage auftritt.

 

Die Art der Weisen. Und ihre Armut

Es passt zu dieser Zwiespältigkeit, von der Natur des Menschen zu handeln, und die meisten Menschen auszuschließen. Cicero weiß, dass er den Armen nichts zu sagen hat. Er lässt das seinen Cato sogar noch aussprechen – um es gleich wieder zu vergessen.

Für seine klaglose Einstellung zum Alter bewundert, hatte Cato als erstes die Antwort, dass daran eigentlich gar nichts Erstaunliches und die Haltung auch nicht schwierig sei.

„Wer nämlich in sich selbst nicht die Voraussetzung dafür hat, gut und glücklich zu leben, für den ist jede Altersstufe bechwerlich. Wer aber alles Gute bei sich selbst sucht, dem kann nichts schlimm erscheinen, was die Naturnotwendigkeit ihm bringt.“ (4)

Aber was ist, wenn einer vergeblich sucht, weil ihm die Güter fehlen? Da könnte doch, lässt Cicero den Laelius nachfragen, „vielleicht jemand behaupten, dir scheine das Alter wegen deiner Mittel, deiner Möglichkeiten und deines Ranges leicht, und darüber könnten nicht viele verfügen„.

Ja – das lässt er gelten, der alte Cato. Bei völliger Mittellosigkeit kann das Alter nicht einmal für einen Weisen leicht sein.

„Nec enim in summa inopia levis esse senectus potest ne sapienti quidem, nec insipienti etiam in summa copia non gravis“ (8).- „In größter Armut kann das Greisenalter selbst für einen Weisen nicht leicht sein, noch für einen Dummen bei größtem Reichtum nicht unbeschwert“.

(Die Reclam-Ausgabe übersetzt in summa inopia statt „in größter Armut“ mit „in völliger Mittellosigkeit“; Gottwein zieht nebulös „Dürftigkeit“ vor.  Die englische Übersetzung bei Bartleby verfährt hier recht frei und dichtet noch was von Millionären hinzu: “ For the philosopher himself could not find old age easy to bear in the depths of poverty, nor the fool feel it anything but a burden though he were a millionaire“. )

Und was schließt Cato daraus? Gar nichts!

Er übergeht die Mittellosen sogleich wieder und setzt damit fort, die Tugenden und ihre Betätigung zu preisen. „Die besten Waffen gegen das Alter, Scipio und Laelius, sind überhaupt die Tugenden und ihre Betätigung. Zu jeder Lebenszeit geübt, bringen sie, wenn man lange gelebt hat, wunderbare Früchte …

Aber ja eben keine, die arme Tugendhafte essen könnten. Die „weisen Mittellosen“ sind schon nach einem Satz wieder vergessen. Das ganze Zugeständnis ist nur für die Pointe gegen die dummen Reichen da. Das ist der Punkt, um den sich alles dreht: das gute und das falsche Leben … unter denjenigen, auf die es ankommt.

Die Dummen, die hier an den Pranger kommen, sind dafür auch keine namenlosen Ungebildeten, sondern Senatoren und ehemalige Konsuln. Manchmal sogar zu Unrecht. Von den beiden erstgenannten Dummköpfen, die Cato über das Alter klagen lässt – „C.Salinator und Sp. Albinus, ehemalige Konsuln, die fast so alt wie ich sind“ -, hat Cicero den zweiten sehr viel älter werden lassen, als er wurde. „Sp. Albinus“ ist mit etwa 50 Jahren der Pest zum Opfer gefallen. Aber was tut’s! Wichtig ist, gute und schlechte Beispiele anzuführen – und dafür kommen nur die Herrschenden selber in Frage.

Alles andere ist für Cicero irrelevant. Er schreibt keine Erbauungsliteratur für jedermann. Dann müsste er natürlich etwas zu den Mittellosen sagen. Nein, Cicero schreibt an seinesgleichen. Etwas anderes macht politisch keinen Sinn. Und so fehlen dann wie selbstverständlich auch die Frauen. Selbst diejenigen in summa copia.

Es ist dementsprechend auch keine zufällige, willkürlich gewählte Form, wenn Cato seine Auffassung im Folgenden als Widerlegung von Klagen über das Alter ausführen lässt. Das hier ist eine Schrift die sich an die Elite der römischen Republik richtet: diejenigen, die für Cicero die Lösung des Caesar-Problems zu sein hätten.

Als moderne Leser kommen wir um den Begriff der Menschenrechte nicht herum und sind damit von Anfang an von Cicero getrennt. Man hat eigentlich nur die Wahl: die Schrift historisch zu lesen oder sie zur bloßen Erbauungsliteratur fürs Altersheim zu machen. – Ich komme darauf abschließend zurück. Zuvor aber noch ein Durchgang durch die Ausführungen im Detail. Die Schrift ist Geburtsort und Heimat manch vertrauter „Altersweiheit“: es macht schon Sinn, deren Herkunft zu kennen.

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Ciceros Schrift über das Alter
1: Der geköpfte Alte
2: Cato, das Altenideal
3: Klassische Altersklagen, klassisch abgetan
4: Weisheiten fürs Altenheim?

 

Der geköpfte Alte – Ciceros Schrift über das Alter, Teil 1

Die wohl berühmteste Schrift zur Philosophie des Alters verfasst Cicero 45/44 v.Chr. in einer für ihn erzwungenen politischen Kampfpause. Nach dem Sieg gegen Pompeius in der Schlacht von Pharsalos im August 48 wird Cäsar Alleinherrscher in Rom, und Cicero, im Senat einer der energischsten Vertreter der alten Republik, verlegt sich weitgehend aufs Schriftstellertum und die Philosophie. Als kleinere, wie zwischendurch eingeschobene Arbeit entsteht gegen Ende dieser Phase auch das  Buch Cato Maior de Senectute, „Cato der Ältere über das Greisenalter“.

Die Schrift ist dem Freund Atticus gewidmet und in der Vorrede nennt Cicero als Zweck, sich und den Freund von „der Last des herandrängenden Alters zu erleichtern“. So lässt sie sich als eine philosophische Bewältigung der Altersangst lesen. Klagen über das Alter werden in stoischer Weisheit widerlegt, als dumm und unbegründet erwiesen. Nicht jammern und klagen, sondern das Alter als Teil des Lebens annehmen und nach Vermögen das Beste daraus machen.

Dem Vermögen kommt darin schon eine wesentliche Rolle zu. Das Bild des angenehmen Alters beruht hier auf maßvoller körperlicher Tätigkeit auf dem eignen Landsitz, auf Bildung und geistigen Studien und auf einer sozialen Achtung, die vor allem in politischen Ämtern erworben wurden.

Zwei Jahre später steht Ciceros Name ganz oben auf den Todeslisten des neuen Triumvirats. Im Dezember 43 v. Chr. wird er auf der Flucht in Süditalien von einem Zenturio erschlagen und geköpft; der Leichnam später durch Rom geschleift und der Kopf des berühmtesten römischen Redners an der Rednertribüne des Forums befestigt.

Warum? Cicero hat sich nach Cäsars Ermordung mit Leidenschaft zurückgeworfen in die politischen Auseinandersetzungen. Obwohl (oder auch weil) er persönlich nicht beteiligt war an der Verschwörung ist er zum Wortführer im Senat und Verteidiger der Republik und zum entschiedensten Feind von Marcus Antonius geworden – auf dessen Betreiben dann Ciceros Name auf die Proskriptionslisten kam. Man muss hinzufügen, dass Cicero umgekehrt vielleicht ähnlich gehandelt hätte. Den Mördern Cäsars jedenfalls warf er vor, kindisch gehandelt zu haben, dass sie Marcus Antonius verschonten, statt ihn gleich mit Cäsar zu beseitigen.

Von diesem Zusammenhang ist in der Literatur über die Schrift so gut wie nichts zu erkennen. Es wird schlicht nicht erwähnt.  Die Gebildeten wissen es vielleicht. Die anderen brauchen nichts davon zu wissen: der klassische Humanist, Redner und Philosoph ist vom Politiker Cicero getrennt wie ein Kopf vom Körper.

 

Eine fortdauernde Trennung

Die ersten Jahrzehnte nach seiner Ermordung ist Ciceros Name unnennbar. Die spätere Wiedergeburt bei Seneca und anderen hält sich an den Philosophen und den herausragenden Redner im formalen Sinn, an Cicero als Sprachkünstler und Rhetoriker unabhängig von Sachpositionen. Ähnlich wird der heidnische Denker auch von den christlichen Kirchenväter geschätzt; was dazu beigetragen hat, dass Ciceros Werke und Briefe in ausnahmsweiser Fülle dem Bücherverlust in der Spätantike entgangen sind.

Unter den Gebildeten der Neuzeit ist De Senectute wieder sehr geschätzt. Sie wird etwa in den Kanon der Harvard Classics aufgenommen, und Jacob Grimm leitet seine „Rede über das Alter“ 1863 mit der Frage ein „Wer hat nicht Ciceros De Senectute gelesen?“.  Natürlich eine rhetorische Frage.  Natürlich unmöglich, im Saal jetzt den Finger zu heben. Das Ende der römischen Republik und die Zeit der Bürgerkriege aber sind kein Thema.  Wenn die Gegnerschaft zu Caesar erinnert wird, dann mit einer deutlichen Herabsetzung Ciceros; mit Angriffen auch auf die persönliche moralische Integrität, wie beim Historiker Theodor Mommsen.

Der Körper ist geschleift. Wir haben nur den Kopf. Und lesen die Schrift als Erbauungsliteratur für jedermann.

Aber nein, man kann sie schon auch anders lesen. Manche Beschönigung darin ist schwer erträglich, aber ihre größten Schwächen gehören noch zu einer Verteidigung der römischen Republik.

Cicero hat nicht ein Wort darin für das Altern des einfachen Volks. Von Sklaven ganz zu schweigen. Und von Frauen wird geschwiegen. Es ist alles darin nur für Seinesgleichen, für die Herrschenden Roms. Es ist, wie Simone de Beauvoir zuspitzt, eine Verteidigung der alten Verhältnissen und der Macht der Alten gegen ihre Bedrohung  durch die jungen Feldherren. „Als Senator verfasst er [Cicero], 63 Jahre alt, eine Verteidigung des Alters, um zu beweisen, dass die seit langem erschütterte Autorität des Senats wieder gestärkt werden müsse.“

Das ist bei Cicero so nicht formuliert und zu Caesars Lebzeiten auch kaum formulierbar. Aber Cicero geht schon nahe heran. Vom ersten Wort an spricht die Schrift zu den von Caesar aufs Altenteil geschobenen alten Herren Roms, die für Cicero das Potenzial des Widerstands gegen die Wiedergeburt des Königtums in Rom bilden. Die Schrift ist sichtbar als Beitrag zu einer konservativen Erneuerung der römischen Elite angelegt: Eine Tugendmahnung im Geiste des alten Roms. Das Lob des Alters ist ein widerborstiges Lob des Alten.

Da spricht einer, der sich mit der Entmachtung des Senats nicht abfinden will. Cicero beweist das in der Tat. Darum wird sein Kopf an der Rednertribüne hängen.

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Ciceros Schrift über das Alter
1: Der geköpfte Alte
2: Cato, das Altenideal
3: Klassische Altersklagen, klassisch abgetan
4: Weisheiten fürs Altenheim?

 

 

Advanced Style – Stil für Fortgeschrittene

Dolores and Friends haben mich im September 2016 auf den wunderbaren Blog des Streetstyle-Fotografen Ari Seth Cohen geführt, den er verschmitzt und mit einigem Stolz „Advanced Style“ getauft hat.

"Dolores and Friends" auf www.advanced.style - Ein Screenshot aus der Homepage von Ari Set Cohen
„Dolores and Friends“ auf www.advanced.style – Ein Screenshot aus der Homepage von Ari Set Cohen

„A project devoted to capturing the sartorial savvy of the senior set“ nennt er seinen Blog: Versuche, die elegante Klasse von Senioren einzufangen. Cohen versteht sich großartig darauf. „How you dress express yourself … Let’s celebrate and empower men and women of all ages!“ Cohen lässt vor allem seine Bilder sprechen. Bilder vorwiegend von älteren Männern und Frauen. Bilder von Style und Lebenslust. Die neueren sind nur gelegentlich mal mit Kommentaren versehen. (Über die Bedeutung von Händen etwa oder das Recht auf nackte Arme).

Die Fotos schlagen einen großen Bogen vom expressiven Outfit zum eher unauffälligen Style, dessen individuelle Besonderheit sich erst bei genauem Hinsehn erschließt. Das oben eingefangene Foto zu Dolores and Friends ist ein Zufallstreffer, das sicher mit Kusshand in jedem Reiseprospekt der Welt verwendet wird. Es gibt schon mehr derartiges zu finden, aber Cohen hat auch die Fähigkeit, den Style in Alltagsoutfits einzufangen, die anderen entgehen. Bei Frauen und Männern, wie gesagt.

Den Anfang machte 2008 ein Foto zweier Russinen, deren Style sich „abhob“ gegen eine Gruppe Hipster, die im Seattle Park Kickbox spielten. Das kann man so glauben. Aber man muss es auch sehen können. Und dazu leistet Cohen einiges.

 

Starke Farben gegen das Ergrauen, oder nur ein kleiner Twist …

Für mich sind Dolores und ihre Freunde ja eher Ausmahmen unter den farbigen Erscheinungen. Starke Farben wandern für mich schnell ins Schrille und Grelle. Pastelltöne sind mir zu süßlich. Und Leopardenmuster stoßen mich generell ab. Ich bin ganz und gar nicht von jedem Bild gleich angetan.

Das Expressive ist nicht so mein Ding.*  Meine Stars aus Cohens Blog sind eher die Lady aus Autumn in New York, der Rabi von der 2nd Avenue, oder Audrey Hepburn-Fan Gerry:

Eine strahlende Frau in einem Trenchcoat. Eine auffälliger Lippenstift, Schmuck und ein farblich gut kontrastierendes Halstuch: Das hat Style und man sieht doch, dass hier zuerst eine Person überzeugt. Die Dinge und ihre Zusammenstellung könnte man im Prinzip auch bei andern finden – aber hier gehören sie zur Trägerin und werden von ihr geadelt.

"It's All About Style" - Screenshot aus Ari Seth Cohens Blog "Advanced Style"
„It’s All About Style“ – Screenshot aus Ari Seth Cohens Blog „Advanced Style“

Das Bild ist vom Oktober 2016. Gerry wurde da 91 und wunderte sich über die Aufmerksamkeit, die sie erregt. Als junge Frau habe man sie nicht auf der Straße fotografieren wollen, und jetzt zweimal in einer Woche. Sie probiert vieles aus, sagt sie über ihren Style, liebt aber vor allem den klassischen Look. Ihre große Inspiration ist Audrey Hepburn. Und ihr Geheimnis? “I eat like a horse”.

Es ist wohl diese Kombination aus an sich eher Unauffälligem mit einem aufrecht erhaltenen Stilwillen, die Cohen an Frauen wie Gerry fasziniert. Gerry rechnet nicht auf große Effekte und kleidet und stylt sich bis in hohe Alter bewusst. Für sich. Nicht für andere. Sie pflegt einen im doppelten Sinn sehr persönlichen Stil. Gerade das einfach Gehaltene passt zur Würde, die sie ausstrahlt.

 

… Haltung ist alles

Ari Seth Cohen ist es auch in einem doppelten Sinn aufgefallen: er hat Gerry angesprochen und fotografiert. Und er hat angefangen, noch einmal über sich selbst und sein Unternehmen nachzudenken.

„I created Advanced Style as a forum for sharing the style and stories of men and women over 60. People who I have always admired and looked up to, but also a segment of the population that is oftentimes marginalized, ignored and made to feel invisible. Style has the power to create a conversation. A great accessory can be the starting point to a deeper exchange about life, vitality, and spirit. In creating my blog I never looked at Advanced Style as being a fashion guide, but rather a place to share, to inspire, and to celebrate the wisdom, creativity, and freedom that comes with age.“

(„Ich habe Advanced Style als ein Forum entwickelt um Styles und Geschichten von Männer und Frauen über 60 mitzuteilen. Menschen, die ich immer bewundert und zu denen ich aufgesehen habe, die aber auch eine Bevölkerungsschicht darstellen, die oft marginalisiert und ignoriert wird und dahin gebracht wird, sich selber unsichtbar zu fühlen. Style hat die Macht, ein Gespräch zu beginnen. Ein tolles Accessoire kann der Ausgangspunkt für einen tiefer gehenden Austausch über das Leben, Vitalität und Lebensfreude sein. Wenn ich an meinen Blog arbeite betrachte ich Advanced Style nicht als Ratgeber in Sachen Mode, sondern als einen Ort zur Teilhabe, zum Inspirieren und Feiern der Weisheit, der Kreativität und der Freiheit, die mit dem Alter kommt.“)

„Style“ und „spirit“. Das erste Wort habe ich jetzt gar nicht in ein deutsches Wort übersetzt. Und das zweite ziemlich unzureichend mit „Lebensfreude“. Das sind nun genau die Schlüsselworte des Textes, die der Übersetzung hier Schwierigkeiten machen. Und ebenso auch „attitude“: Ari Seth Cohen hat den Blogbeitrag zu Gerry mit „It’s All About Attitude“ betitelt.

Das mit „Haltung ist alles“ zu übersetzen ist nicht unbedingt der Stein des Weisen. In der deutschen Modesprache wird Attitude zumeist ebensowenig übersetzt wie Style. In „Haltung“ klingt zuviel Zuchtmeisterei und Zwang mit und zuwenig an persönlicher Einstellung und Würde. Aber Attitude aus der „Fashion“-Sprache zu übernehmen, das verändert andrerseits den Sinn viel zu stark ins Modisch-Trendige, ins „Posen“ und bloßes Zur-Schau-Stellen – also in Dinge, denen manche als erstes mehr Würde, mehr Weisheit, Kreativität und Freiheit wünschen möchten. Es geht doch um  mehr Selbstbewusstsein, Standhaftigkeit, Eigensinn …

Na ja, eben einfach: Haltung! Das, was Cohen sucht und in so vielen alten Leuten findet. Meine Begeisterung über „Advanced Style“ hat genau damit zu tun, mir dafür wunderbares Ansichts-Material zu bieten. Von klein auf sind Gesichter das erste, was dich anzieht und aufmerken lässt. Und Porträts wie diese hier sind auf tiefgründige Weise geeignet, dir etwas Neues übers Leben zu erzählen und Mut zu machen.

 

Das wahre Ich und die schlaue Tarnung

Mir jedenfalls macht dieser Blog Mut und ich entdecke etwas, fast wo immer ich hinschaue. In der Amazon-Beschreibung seines neuen Buchs „Advanced Style: Older and Wiser“ z.B. finde ich das Zitat einer Streetstyle-Queen, die man sich nicht in Gerrys Trenchcoat vorstellen kann, weil Beige für sie den Tod bedeutet:

„…I must tell you that I am not really an old lady; just cleverly disguised as one. Art and color keep me young, keep me sane. Working as I do as an untutored ‚outsider‘ artist is my therapy, my medicine, my joy, and my purpose in life. (…) Be bold, be adventurous. Do profound things, dazzle yourself and the world. Don’t wear beige: it might kill you. Contribute to society, and live large. Life is short, make every moment count. It is never too late to find your passion.“

(„Ich muss euch sagen, dass ich nicht wirklich eine alte Dame bin; das ist nur schlaue Tarnung. … Trage kein beige: es könnte dich umbringen. Beteilige dich an der Gesellschaft und lebe im großen Stil. Das Leben is kurz, lass jeden Augenblick zählen. Es ist nie zu spät, seine Leidenschaft zu finden.“)

Eine andre old lady aber steht lieber genau zu ihrem Alter und fragt in einem Interview: „When is it ok to be older? When is it ok to be who we are?Wann werdet Ihr Euch entscheiden, Euer Alter anzunehmen?

„Advanced style“: Reinschaun und folgen kann ich da nur sagen.

 

P.S.:

Allen, die englische-sprachige Videos schauen, sei noch die Videoliste aus Ari Seth Cohens YouTubeChannel empfohlen. Man muss nicht mal alles verstehen. Auch da sprechen die Bilder oft für sich.

 

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* „Das Expressive ist nicht so mein Ding„: Das sag ich gern über mich selbst und übersehe dabei großzügig, dass ich mit 1,97m und als langhaariger Alter auch ohne weiteres Zutun seltener übersehen werde.

Die ältesten Menschen der Welt

Manchmal verpasst man einen „Moment“. In diesem Fall war es zu befürchten. Als ich im letzten Jahr den nachfolgend dokumentierten Artikel (als einen meiner ersten Testbeiträge) schrieb, da war der älteste lebende Mann der Welt – ein Überlebender von Auschwitz.

Israel Kristal, im polnischen Zarnow am 15.September 1903 geboren, erwartete seinen 113.Geburtstag. Er hat ihn erlebt und deutlich überlebt. In diesem Sommer, am 11.August 2017, ist er in Haifa gestorben. Nach dem Bericht in Haaretz ging die Nachricht kurz durch die Weltpresse. Channel4News bietet ein Video mit Interviewpassagen des Sohns Haim Kristal; da ist etwas mehr zu erfahren als nur von einem Ereignis fürs Guinness Buch der Weltrekorde.

Der Tod von Emma Moreno am 15.April 2017 fand deutlich weniger Aufmerksamkeit – obwohl sie als letzter Mensch starb, deren Geburt vor 1900 als gesichert galt. Das muss man wohl nehmen wie es ist. Es passt aber schon, dass ihre Würdigung noch zu ihren Lebzeiten geschah. Insofern gefällt mir auch, dass Emma und Israel in meinem Artikel vom letzten Jahr noch als Lebende gesehen sind. Für Nabi Tajima und Masazou Nonaka, die aktuellen Nachfolger als gesichert älteste lebende Menschen ihres Geschlechts, werde ich das bald nachholen.

 

Die ältesten Menschen der Welt (Artikel vom 8.9.2016)

Die Gerontology-Research Group listet mit Stand von vorgestern 45 sogenannte „Superhundertjährige“ auf. Das sind Menschen, die über 110 Jahre alt sind. 43 Frauen 2 Männer …

Homepage der Gerontology Research Group (Screenshot)
Homepage der Gerontology Research Group (Screenshot – Zum aktuellen Ranking im zweiten Textabschnitt auf „here“ klicken)

Emma Morana-Martinuzzi heißt die gegenwärtige Rekordhalterin. 116 Jahre und 292 Tage ist sie heute alt. Ich formuliere das mit Vorsicht und besten Wünschen. Die tagesgenaue Altersangabe wird in der Ranking-Liste automatisch aktualisiert. Aber es gibt natürlich keine Gewähr, dass die Datenlage noch jederzeit der Wirklichkeit entspricht.

116 ist im Jahr 2016 eine auffällige Zahl: Emma Morana-Martinuzzi ist tatsächlich eine von nur drei noch Lebenden, die von sich sagen können, noch im 19.Jahrhundert geboren zu sein. Und die einzige mit einer „18“ vorne in der Jahreszahl: geboren am 29.November 1899.

Es ist durchaus möglich, dass aktuell noch mehr Über 110-Jährige leben. Für eine große Zahl liegen Dokumente auch schon vor, gelten aber noch nicht als bestätigt (eine Grafik zum Verhältnis von „verified and pending supercentenarians“ ist im Menu „Charts and Graphics“ zu finden). Darüber hinaus sind viele Lebensdaten gar nicht verfügbar. Das schließt weite Bereiche der Welt aus der Statistik aus.

Als bestätigte Alltime-Rekordhalterin steht Jeanne Calmet an der Spitze, die am 21.2.1875 in Arles, Frankreich geboren wurde und dort am 4.8.1997 im Alter von 122 verstarb. „Internationale Bekanntheit erlangte sie im Alter von 113 Jahren, als sie davon berichtete, wie sie als 14-Jährige 1889 dem Maler Vincent van Gogh begegnet war.“ Erzählt ihr Wikipedia-Eintrag. Und dazu auch, dass sie ihn hässlich fand.

Unter den Männern gilt der Japaner Jiroemon Kamura als Rekordhalter: als erster und bislang einziger Mann, der das Alter von 116 erreichte. Der älteste noch lebende Mann ist seit Anfang des Jahres 2016 der polnisch-israelische ehemalige Konditor Israel Kristal. Sein Ernährungstipp sind Süßigkeiten und man darf annehmen, dass er wie letztes Jahr zum 112ten sich auch am bevorstehenden 113ten Geburtstag über eine Sahnetorte freuen wird.

Israel Kristal, der gegenwärtig älteste Mann der Welt: ist ein Überlebender von Auschwitz.

 

Tipps zum langen Leben: Eier, Nüsse, Scheidungen

Alle, die so alt sind, werden nach ihren Geheimnissen befragt. Ihre Antworten haben oft mehr den Charakter von liebenswerten Anekdoten und Schrullen. Die Medien-Berichte über sie heben gern auffällige Besonderheiten hervor. Julianne Meissner erinnert z.B. in einem Artikel der Berliner Zeitung vom 5.9.2016 daran, dass Emma Morana sich vor 78 Jahren von ihrem Ex-Mann getrennt habe – der sie geschlagen hat. Für die 1930er Jahre in Italien ein bemerkenswerter Schritt. Und als Tipp zur Langlebigkeit natürlich unbedingt überzeugend. Vor allem noch, wenn der Artikel „uralt und kerngesund“ betitelt ist.

Emma Nahrungsgewohnheit „widerspricht allen Richtlinien für eine korrekte Ernährung: Sie hat immer gegessen, was sie wollte, und ihr Speiseplan wiederholt sich ständig“, sagt ihr Arzt einem Welt-Artikel zufolge. „Jahrelang hat sie jeden Tag das Gleiche gegessen, nicht viel Obst oder Gemüse.“ Ernährungsforscher beirrt das nicht und verkaufen ihre Ernährungstipps gern mit dem Versprechen auf Langlebigkeit. Neben „Obst und Gemüse“ sind besonders „Nüsse“ eine beliebte Schlagwort-Empfehlung. (Worauf ich noch ausführlich zurückkommen möchte.)

Auch die Wohnorte interessieren. Japan und Italien sind als Angaben in der Liste der Superalten auffällig häufig vertreten. Das deckt sich mit Berichten über Orte der Langlebigen, die in den Medien „Tal der Hundertjährigen“, „Insel der Unsterblichkeit“ oder „Dörfer von Methusalems“ getauft werden.

„Okinawa ist eine der Hochburgen der Super-Alten. Eine Insel der Unsterblichkeit. Dort sind rund 740 von 1,3 Millionen Menschen über 100 Jahre alt, 90 Prozent davon sind Frauen. Auch im ecuadorianischen Dorf Valcabamba werden auffällig viele Menschen steinalt, trotz Drogen. Warum das so ist, niemand weiß es. Das Tal der 100-Jährigen nennt man den Ort in Südamerika. Auch in Campodimele, einem italienischen Dorf in den Aurunci-Bergen, scheint die Uhr anders zu ticken. Die Einwohner dort werden uralt. 30 Jahre länger sollen sie durchschnittlich leben als der Rest der Italiener. Dieser „Ort der Ewigkeit“ liegt zwischen Rom und Neapel.“ (Ingrid Müller: Super-Senioren. Die Hochburgen der 100-Jährigen. Artikel vom 17.12.2012 in NetDoktor)

Also ein paar Nüsse eingepackt und auf ins Tal der Hundertjährigen? Nicht unbedingt. Immerhin ist nicht auszuschließen, dass man sich dort tödlich langweilt.

Einem alten Witz zufolge hat ein Patient den ärztlichen Rat erhalten, auf gutes Essen, Wein, Zigaretten etc zu verzichten, wenn er 100 werden will – und der Patient beschloss, es nicht zu wollen. Die Weltgesundheitsorganisation zählt neben körperlichem und psychischem sinnvollerweise auch das soziale Wohlempfinden zu ihrem Gesundheitsbegriff hinzu. Körperlich kerngesund und völlig vereinsamt zu sein – das klingt eher traurig als vielversprechend. Nüsse alleine bringen’s nicht.

Richard Coler, ein Arzt, der Vilcabamba, „das rätselhafte Tal der hochagilen Greise“ in Ecuador erforschte, hebt in einem Interview hervor, dass neben die Frage „wie alt“ man wird auch die andere gehört: wie man im Alter lebt.

„Mehr Zeit zu haben wäre für mich im Moment das Großartigste. Ich verstehe schon, dass einen das auch ängstigen kann. Was mache ich mit der ganzen Zeit? Das ist schon eine große Frage, auch jetzt schon. Oft sind wir dabei nicht sehr originell, versuchen vor allem auch das: die Jungen zu imitieren oder dafür zu kämpfen, weiter jung zu erscheinen. Das hat nicht viel Sinn. Wenn wir alle sehr viel älter werden, wird sich das Konzept von Alter ändern – müssen.“

***

Übrigens:

The 110 Club“ ist ein Forum, das Diskussionen und Fotogalerien zu den Supercentenarians  bietet.

Homepage "The 110th Club"
Homepage „The 110th Club“

Dort finden sich auch Bilder vom 112ten Geburtstag der „unvalidated Supercentenarian“ Edelgard Huber von Gersdorff, die derzeit älteste lebende Frau in Deutschland. (Die SZ würdigt sie mit einem Artikel vom 7.12.2017.) Allerdings gibt Deutschland gegenwärtig das seltene Beispiel, dass an der Spitze der Rangliste ein Mann steht: Gustav Gerneth ist 53 Tage älter. (Zum Geburtstag am 5. Oktober gratulierte ein Spiegel-Online-Artikel.)

Der Wikipedia-Artikel über die Ältesten Menschen der Welt bietet eine zusätzliche Liste der „Ältesten Deutschen“, die – Emigranten und Immigranten eingeschlossen (!) – auf 69 Namen kommt.  Neben den Rekordhaltern sind darin 15 weitere lebende Supercentenarians verzeichnet – allesamt Frauen.

Todesursache: Vom Schwein umgerannt

Wieviel Zeit uns bleibt. Und wie wir uns verrechnen können. – Eine Mahnung von Montaigne.

Soll man den Tod immer gegenwärtig haben?

Montaigne plädiert 1572 ganz eindringlich dafür. „Philosophieren heißt Sterben lernen.“ Das Cicero zugeschriebene Wort macht er zum Titel eines seiner Essays. Gemeint ist: „Wer Sterben gelernt hat, versteht das Dienen nicht mehr.“ Das Sinnen auf den Tod sei ein Sinnen auf Freiheit. Wer jederzeit mit dem Tod rechnet und bereit ist, der hat sich von allen Zwängen befreit.

Immer schon und immerzu denke er an den Tod. Vor allem sagt er: wenn es doch ungewiss ist, wann uns der Tod erwartet, dann kann es jederzeit sein! „Jede Minute deucht mich, meine Stunde schlage. Und ich sage und singe mir beständig vor: Alles, was eines Tages geschehen kann, kann heute noch geschehen!

Nach keiner Sache habe er sich auch so oft erkundigt „wie danach, wie ein Mensch gestorben ist: nach seinen letzten Worten, Mienen, Gebärden, die er dabei macht.“ Als Büchermacher würde Montaigne ein Register davon erstellen, auf welche Arten die Menschen sterben. Um die Menschen das Sterben zu lehren, und um sie das Leben zu lehren. Aber auch ohne Register kann er schon einiges davon erzählen, wie scheinbar absurd und unerwartet das Ende sich ereignen kann.

Kuriose Tode
„…wer hätte je gedacht, dass der Herzog von Bretagne im Gedränge erstickt werden könnte, wie es ihm beim Einzug des Papstes Clement in Lyon geschah? Hast du nicht einen unsrer Könige beim Spiel töten gesehen? Und starb nicht einer seiner Vorfahren davon, dass ihn ein Schwein umrannte?

Äschylos war wahrsagerisch gewarnt worden, sich vor dem Einsturz eines Hauses zu hüten; was half’s ihm, dass er sich vor jedem alten Haus in acht nahm? Ein Schildkrötenhaus erschlug ihn, das ein Adler aus der Luft fallen ließ.

Anakreon starb an einem Weinbeerkerne. Ein Kaiser schrammt sich mit einem Zahn vom Kamm, da er sein Haar scheitelt, und stirbt daran; Aemilius Lepidus daran, dass er sich mit dem Fuß gegen die Schwelle seines Zimmers gestoßen, und Aufidius, dass er an die Tür des Saales anrammte, worin er geheimen Rat hielt.

Als sie ein Weib erkannten, starben Cornelius Gallus, Prätor; Tigellinus, Hauptmann der Scharwache in Rom; Ludwig, Sohn des Guy de Gonzaga, Marquis von Mantua; und Speusippus, ein Platoniker, wie auch einer unserer Päpste gaben noch skandalösere Beispiele.“ (Montaign, Essais, 12f. – Absätze vor mir eingefügt, kvoja).

Man wird das nicht leicht für bare Münze nehmen – auch wenn die Erzählungen zu Anakreon und Aischylos ja klassische Legenden sind. Anakreon ist der Dichter, der den Wein besang und sich an einer Weinbeere verschluckte. Die absurde Geschichte zu Aischylos wird in verschieden abgewandelten Formen erzählt – zum Beispiel auch in der Naturgeschichte des Plinius, der großen Enzyklopädie des Altertums, Abteilung Vogelkunde in Buch X. Der „Entenadler“ soll die Klugheit haben, Schildkröten zum Aufbrechen ihres Panzers aus großer Höhe auf Steine fallen zu lassen. „Durch einen solchen Fall kam der Dichter Aeschylos ums Leben …

Die anderen Anekdoten sind mir unbekannt. Aber wer weiß? Den vermeintlichen Sextoten wird in ihren Biographien eher Selbstmord zugeschrieben – das könnten natürlich auch Deckgeschichten sein. Es ist auch deswegen schwer zu sagen, weil den Autoren so oft Montaignes Neugier fehlt und sie schaun gar nicht näher hin und fragen nicht und schreiben bloß „gestorben am …“ Und sind vielleicht dankbar, wenn sie Ursachen dazusetzen können, über die man nicht lange nachdenken muss.

Montaignes Leidenschaft, solche Anekdoten zu sammeln, hat aber auch vielfältige Nachfolger gefunden. In Oliver Tearles Blogpost über ungewöhnliche Autorentode für die Huffington Post macht auch Aischylos den Anfang (deutsch hier). Sehr viel reichhaltiger ist die Liste ungewöhnlicher Todesfälle in der Wikipedia. In den USA sind 1000 ways to die sogar eine Fernshow-Show geworden.

Zur Schweine-Geschichte finde ich witzigerweise die Nachricht, dass im letzten Januar in meiner Nachbarschaft Ähnliches geschah: Am frühen Nachmittag taucht plötzlich eine Wildschweinrotte am Kurt-Schumacher-Damm auf, Leute werden umgerisssen und verletzt, die Schweine ziehen in den Rehberge-Park, später wird ein Keiler mit 18 Schuss von Beamten beim Vereinsheim des BSC Rehberge niedergestreckt. „Der Verbleib der restlichen Rotte ist noch unklar.“ (lol)

Die Lebenserwartung und der Tod um die Ecke
Im Prinzip stimmt’s jedenfalls, oder? Es kann jederzeit geschehen. In der unglaublichsten Form. Es trifft auch nicht nur Alte. Für keinen von uns ist die „statistische Lebenserwartung“ eine Marke, an die wir uns halten könnten. Aber wir tun es, mehr oder weniger. An symbolischen Geburtstagen rückt er uns vielleicht nahe. Doch ohne schwerwiegenden Krankheitsbefund wird der Gedanke an den Tod zumeist wieder weggeschoben. Ist das falsch?

Wir freuen uns gar, wenn die Statistik plötzlich noch höhere Lebenserwartung „verspricht“. Individuell muss es ja nichts heißen, aber trotzdem entdecken wir gerne, dass die Statistik neben der durschnittlichen Lebenserwartung auch noch Tabellen über die „fernere Lebenserwartung“ führt! Erstmal die 60 erreicht, rechnet uns die Statistik ein paar Jährchen zusätzlich gut. Als 60-jähriger Mann darf ich auf weitere 21,52 Jahre hoffen, während nach der allgemeinen Lebenserwartung doch mehr als drei Jahre vorher Schluss wäre. Für Frauen sind es 25,19 weitere Jahre und damit etwa 2 Jahre mehr als die Lebenserwartung für Neugeborene ausweist. (Die Zahlen sind der Tabelle „Lebenserwartung in Deutschland“ des Statistischen Bundesamts entnommen; dort sind auch Berechnungen für andere Altersgruppen.)

Derweil lauert der Tod um die Ecke. Die Krebszelle wuchert schon. Irgendein Vollidiot verliert die Kontrolle über seinen Wagen, nur für einen winzigen, endgültigen Augenblick. Und, ja: „man mag an sowas nicht denken“, schiebt es weg und verschließt sich vor dieser Wahrheit. Das ist eine gewisse Schwäche.

Aber folge ich darum Montaignes Rat, den Tod immer gegenwärtig, als beständige Möglichkeit vor mir zu haben? Er fordert seine Leser direkt dazu auf:

Beim Stolpern eines Pferdes, beim Sturz eines Dachziegels, beim geringsten Stich einer Stecknadel lass uns gleich denken: je nun, wenn’s nun der Tod selbst wäre?

Je nun, das ist schriftstellerisch prima zugespitzt, doch die Nadel bleibt stumpf für mich. Es überzeugt einfach nicht. Da trennen mich Zeit und Verhältnisse von Montaigne. Natürlich kann alles Mögliche passieren. Aber ich werde jetzt nicht wirklich am Kurt-Schumacher-Damm stärker auf Wildschweine achten. Einfach weil ich mich im Allgemeinen relativ sicher fühlen darf. Nicht nur vor Schweinen.

Allein dass wir (in Deutschland) in Fríeden leben, ist ein ungeheueres „Geschenk“. Die relativ große medizinische und soziale Sicherheit (für mich, meine Familie und Freunde) sind ebenso Errungenschaften, die mich unendlich weit von Montaigne entfernen. Das klingt leicht banal und oberflächlich, aber es ist vielleicht auch eher umgekehrt und wir verkennen oft, auf wie weitreichende und tiefgründige Weise wir den Tod tatsächlich besiegt haben.

Diese Friedens- und Fortschritts- und Sozialstaats-Dividende ist nicht selbstverständlich und für immer gegeben. Da könnte schon auch deutlich mehr gehen. Vor allem mit der Verteilung stimmt’s überhaupt nicht. Wer näher hinschaut wird sehen, dass auch die Lebenserwartung für die Ärmeren deutlich geringer ist. (Nur als ein Hinweis, ich komme darauf zurück: Die Tagesschau berichtet im März 2017 über eine Studie des Paritätischen Gesamtverbandes, wonach der Unterschied zwischen arm und reich 10 Lebensjahre und mehr ausmachen kann.) Für den Einzelnen sind die Statistiken auch alles andre als Versprechen. Dennoch ist im Allgemeinen eine Sicherheit da, die ein Montaigne sich kaum erträumen konnte.

Der Tod als allgegenwärtiger Gegner
Montaigne sieht den Tod jeden Tag als „Gegner“. Sein Essay ist Kampfansage und Rüstungsmaßnahme zugleich. Wenige Tage nach seinem 39.Geburtstag findet er, dass ihm doch wenigstens nochmal soviel an Lebensjahren gebühre. Zugleich aber scheint ihm „töricht“, den Tod in die Ferne zu rücken.

Er schreibt inmitten der Konfessionskriege in Frankreich. Die „Bartholomäusnacht“, das Massaker an den Protestanten, ereignet sich noch im selben Jahr. (Auch in Bordeaux wird gemeuchelt, und Freunde von ihm sind unter Tätern und Opfern.) Am Ende seiner zweiten Amtsperiode als Bürgermeister wütet 1585 die Pest in der Stadt. Der beste Freund ist schon vor Beginn der Essays verloren. Nur eine von fünf Töchtern erreicht das Erwachsenenalter.

Mitte 30 rechnet Montaigne sich zu den Alten. Er muss sich nur umschaun, um das bestätigt zu sehen. „Du hast die Grenzsteine des Lebens überschritten. Meinst du nicht? Nun, so zähle, wie viele unter deinen Bekannten mehr waren, die vor deinem Alter starben, als deren, die es erreichten.

Der Tod ist für ihn überall; als Bedrohung so real, dass er in alle Lebensbelange hineinregiert und seine Herrschaft sich täglich fühlbar macht. Hier die große Seuche, dort eine kleine Nadel. Von da aus macht das Vorhaben einen ganz andren Sinn, sich jederzeit bereit zu halten.

Eine Preisgabe von Gegenwehr meinte Montaigne damit auch nicht, das darf man nicht missverstehen. Mit 38 zog er sich zwar ins Privatleben zurück, mit dem Vorhaben, den Rest der Zeit „für sich“ zu haben. Aber dann macht ihm die Geschichte einen Strich durch die Rechnung und er engagiert er sich doch wieder, wird als Vermittler zwischen den Fronten tätig und für zwei Amtsperioden Bürgermeister von Bordeaux. Gut möglich, dass er dem Tod so einige von der Schippe geholt hat. Sich für den Frieden zu engagieren passt einfach besser zu dem Wunsch, dass der Tod ihn nicht im Krieg, sondern beim „Pflanzen eines Kohls“ abhole.

Am Ende war’s in der Messe. Montaigne soll „plötzlich“ während einer Messe gestorben sein, lese ich. Ein Opfer der Diphterie. Von letzten Worten, Miene und Gebärden steht da nichts. Aber ich bin neugierig geworden; vielleicht krieg ich ja noch was raus. Diese Wendung vom „plötzlichen“ Tod jedenfalls, wie das so übliche „plötzlich und unerwartet“ – das glaub ich nicht. Eher hat er ihn erkannt, den Tod, und vielleicht „ausgerechnet hier?“ gedacht ….

P.S.: Muss man hinzufügen?
… dass diese Unterscheidung von Montaigne und „uns“ nur für einen kleinen Teil der Welt heute gültig ist?

***

Zusatz:
Die vielfach empfohlene „erste moderne Gesamtübersetzung“ der Essays von Hans Stilett finde ich leider nicht verfügbar. Die Zitate sind nach der Übersetzung von Johann Joachim Bode wiedergegeben, in der Ausgabe des Insel-Verlags von 2001, eine leider doch schmale Auswahl. Zweitausendundeins.de bietet derzeit eine Gesamtausgabe dieser Übersetzung an.

Für die Übersetzung von Hans Stilett nimmt mich spontan ein, dass sie – ein „Ruhestandsprojekt“ ist. Da hat sich jemand nach Ende seiner Berufslaufbahn noch einmal aufgemacht: studiert, promoviert und eine große Arbeit begonnen und geleistet.

Online finde ich deutschsprachige Übersetzungen nur sehr begrenzt. Das Angebot des Projekt-Gutenberg reicht (derzeit?) nur bis Kapitel 16 und erscheint mir nahezu unbrauchbar. Wohl dem, der Französisch liest! Das kanadische themontaigneproject bietet den vollständigen Text. scholarbanks den englischen Text in einer frühen Übersetzung von John Florio.

***

Auch das noch:
In (Selbst-) Darstellungen der Chemie wird gerne mal ein Spruch des deutschen Chemikers und Industriemanagers Carl Heinrich Krauch zitiert: „Früher starben die Menschen mit 35 Jahren, heute schimpfen sie bis 95 auf die Chemie„. Er selber nicht. Er starb mit 72 bei einem Verkehrsunfall. – Die moderne Statistik mit ihren „Lebenserwartungs“-Zahlen gibt Montaigne schon Recht: was irgendwann passieren kann, kann ebenso heute geschehen. Man kennt das umgekehrt schon vom „Mensch Ärger dich nicht“, wenn die Sechs einfach nicht kommen will.

Oder das:
Charlie Brown sitzt im Peanuts-Comic mit Snoopy am See und blickt hinaus: „Eines Tages werden wir alle sterben, Snoopy!“ – Snoopy: „Ja, das stimmt, aber an allen anderen Tagen nicht.

60 Jahre und kein bisschen weise?

Was schräg wirkt, bleibt im Gedächtnis oft am längsten hängen. So ist es mir mit dem Song von Curd Jürgens ergangen. Irgendwie hat der mich ewig begleitet. Ich konnte nicht mal sagen, warum.

Als das Lied 1975 erschien war ich 18. Was sollte ich mit dem Thema? Den Schauspieler selber mochte ich auch nicht besonders. Aber der Song saß. Für immer. Als die 60 näher rückte, war er gleich wieder da; als wär er nie fort gewesen.

Der ewige Ohrwurm: Je dümmer desto immer. Und für mich stand das Lied lange weit oben in der Rangliste der unfassbaren Dummheiten.

Ich hab’s glaub ich über eine Fernsehshow mitbekommen: Der Star ist 60 geworden und singt darüber! Aber WAS er singt! „Kein bisschen weise“. Kein bisschen? Boar, das ist blöd!

Ich hab wohl gar nicht hinhören wollen. Jetzt, mehr als 40 Jahre später entdecke ich, dass ich auch gar nicht richtig hingehört habe. Was mir vor allem immer als Ausbund von Altersschwachsinn im Ohr klang, war der Refrain:

„Sechzig Jahre und kein bissschen weise,
Aus der harten Schale nichts gelernt.“

Große Güte, was soll das bedeuten? Ich höre nur „kein bisschen weise“, „harte Schale“, „nix gelernt“. Ist er noch stolz darauf? Wie kann man überhaupt was aus ner harten Schale lernen? Der Mann ist doch nuts! Der hat einen an der Waffel.

Das Lied wurde einigermaßen populär und Curd Jürgens gerade auch dadurch bei mir zur Verkörperung eines verlogenen Umgangs mit dem Alter, in dem sich Alte selbstgefällig als starrsinnige Narren präsentieren. Wir ändern uns nicht! Selbst wo wir blöde sind, bleiben wir stolz darauf. Unterschwellig, aber deutlich tritt die Botschaft hinzu: jeder sieht, dass wir alt werden, aber wir nehmen das nicht an.

Genau mit dieser Botschaft hab ich mir den Song heute wieder vorgenommen. Das Internet hält sie ja bereit, die „Schätze“ der Erinnerung. Und dann gibt es außer YouTube-Videos auch noch die Songtext-Archive. Da lese ich jetzt rein, weil außer dem Gaga-Refrain ja wenig übrig geblieben ist. Und siehe da! Der Text war anders.

„Sechzig Jahre und kein bißchen weise,
aus gehabtem Schaden nichts gelernt.“

Oha. Da hab ich ihm Unrecht getan, dem Curd Jürgens. Aber, hm: Ist der echte Text besser? Sprachlich doch nicht. Der „gehabte Schaden“ lässt ihn eher leicht debil rüberkommen. Passt ja vielleicht zur gesamten Aussage, aber bitte: Spricht so ein Wiener Burgschauspieler? Der Mann hatte beruflich ein Leben lang mit der Pflege der deutschen Sprache zu tun. Da möcht man ihn gern anders singen hören. Und sei’s mit harter Schale. Also: ja, schon peinlich, wie man sich verhören kann. Aber andrerseits …

Zu sich stehn und Abstand finden
Im kompletten Text kommt als Message rüber: „Ich hab mir mit meiner Art so einige Schrammen abgeholt. Manchmal hat’s richtig Weh getan. Aber wenn ich ehrlich bin: gelernt hab ich nichts daraus. Ihr seht mich jetzt als 60Jährigen. Damit wirkt man vielleicht weise – aber nee, das täuscht. Reife hat nichts zu tun mit Falten.“

DAS ist natürlich besser. Da ist schon Weisheit zu erkennen. Der berufliche Zwang, auf sein Image zu achten („Daß ich dann blieb, das war nicht Selbstvertrau’n, sondern die Angst, man könnte mich vergessen.“), der machte manches Bleiben-wie-man-ist schon nachvollziehbar. Aber bleibt das jetzt für immer so? Der Text lässt das offen. Die Botschaft des Songs sagt dagegen eindeutig: Ja. Ich bleibe, wie ich bin.

Der Song war ganz wörtlich auch Begleitmusik zu einer gleichnamigen Biographie. Vielleicht lese ich die jetzt mal. Vielleicht lerne ich dann, dass da mehr im Spiel war, und vor allem auch mehr Weisheit im Umgang mit dem (bevorstehenden) Alter. Aber ich glaube, dass ich den Song und seine populäre Aufnahme trotz schwerem Verhörer schon nicht so falsch aufgenommen habe: als selbstzufriedene Präsentation eines alt Gewordenen, der trotz mancher Wunden keinen Anlass sieht, sich zu ändern.

Es ist ja stark, wenn du im Alter sagen kannst: Ich hab einige Fehler gemacht, aber im Großen und Ganzen steh ich zu mir. Ich würde wohl wieder so leben. Aber: Muss man dann auch so weiter machen? Es wäre doch z.B. möglich zu sagen: „den Fehler x oder y – den bedaure ich; an der Stelle HABE ich gelernt“?

Und wenn dann auch größere Dinge im Spiel sind?

Mitte der 1970er Jahre hatten die 60-Jährigen schon erheblichen Grund, das Lernen aus ihrer Lebenserfahrung nicht wegzuschieben. Curd Jürgens hatte seinen 30.Geburtstag 1945. Was immer seine persönliche Biografie angeht: wenn diese Generation mit 60 heiter gelassen singt „aus Gehabtem Schaden nichts gelernt“, dann war der Hass darauf, den ich für mich als ganz individuelle Abneigung verstanden hatte, vielleicht nicht ganz unangebracht.

Die Generation der Alten, mit denen ich als Jugendlicher aufgewachsen bin, hatte so manche Probleme damit, gute Altersvorbilder auszuprägen. Einigen ist es gerade darum besonders gut gelungen. Viele wirkten verpanzert.

Möglicherweise spielte für mein Hören damals eine Rolle, dass meine erste große Politisierung mit dem Misstrauensantrag gegen Kanzler Willy Brandt geschah. Der „Kniefall von Warschau“ war für mich schon ein starkes Bild von Würde. Sich seiner Geschichte zu stellen oder sie in neuer Großmannssucht zu verdrängen: das war ein stark polarisierendes Thema. Vielleicht hab ich das Lied spontan da eingeordnet? Das könnte mir heute am ehesten erklären, warum ich es damals nicht nur blöde fand, sondern es auch gehasst habe. Ich kann’s nicht mehr sagen; bewusst war mir das jedenfalls nicht.

Inzwischen ist der Affekt verflogen. Ich kann das Lied fast schon gelassen hören. Und wenn jemand sich gern einen unverbesserlichen Dummkopf nennt, dann spür ich da inzwischen auch Nähe.

Jedenfalls ist die 60 ein stark symbolisches Datum, das dich einlädt, über dich selber und dein Leben neu nachzudenken. Ob jetzt oder erst in einigen Jahren: du gehst in einen neuen Lebensabschnitt. Die Frage steht an, wie du ihn gestaltest. Und das enthält als große Chance, zu Dingen neu Abstand zu finden und neu zu lernen.

Das Alter anzunehmen heißt für mich genau das. „Kein bisschen weise“ und zufrieden damit – das find ich nach wie vor nicht so dolle …

Die Moral von der Geschichte
… ist dann, nüchtern gesehen, dennoch eine andere: Ich bin als 60-Jähriger in der Lage, einen fast lebenslangen Hörfehler zu korrigieren!

Dank dem technischen Fortschritt – hier in Gestalt von YouTube und den Songtextarchiven! Das mag für „digitale Natives“ nicht leicht zu verstehen sein, aber tatsächlich hab ich in meiner Jugend wohl die meisten Songtexte nicht oder falsch verstanden. Manche Platten-Cover oder Schutzhüllen enthielten Texte, aber das meiste „Liedgut“ der 1970er und 80er ging doch unerkannt an mir vorbei. Und wer weiß, ob etwa meine Liebe zu Frank Zappa den Text-Schock überstanden hätte? Im Positiven wie Negativen waren gruslig viele Hörprobleme im Spiel.

Jetzt steht alles zum Nachlesen, was immer jemand gesungen hat. Unter Umständen auch schon vorher. Wer’s noch nicht kennt, sollte es baldigst erkunden! Für das Lied von Curds Jürgens gibt’s bei YouTube die oben eingebettete Fernseh-Aufzeichnung: Curd Jürgens mit feschem Halstuch, lebhaftem Blick und schelmischem Ausdruck; das lässt an der „prima und weiter so“-Bedeutung des Lieds wohl kaum Zweifel zu. Allerdings sind Anfang und Schluss des Songs hier weggeschnitten. Wer’s ganz hören mag, wählt das Video zum Song mit dem Bild des Covers der damals veröffentlichten „Single“.

Songtexte stehen oft in den Begleitinfos. Und wo nicht, springen die die Songtext-Archive ein. Das Angebot ist reichlich. Es reicht schon, einfach „Songtext“ in die Suchmaschinen einzugeben. Beim Curd Jürgens-Test überzeugte mich neben dem benutzten Dienst von SongtextMania auch Golyr.

Das Auffinden von unbekannten Titeln ist übrigens auch nicht schwer. Zum einen gibt’s die genialen Musik-Erkennungsdienste Shazam & Co. (hier eine Übersicht über Android-Apps). Du hälst dein Smartphone vor die Musikquelle und hast meist in wenigen Sekunden einen Titel zum Lied (und eine Kaufangebot).

Zum anderen leistet selbst Google oft erstaunliche Dienste, wenn man Textzeilen in Anführungszeichen in die Eingabeleiste schreibt. Die Brauchbarkeit hängt natürlich von der Eingabe ab. Der Test zu „I love you“ erbrachte 122 Mio. Treffer. Aber man findet schon oft das Gesuchte.

Ich hab sogar meinen Hörfehler „aus der harten Schale nichts gelernt“ bei andren wiedergefunden! Man ist tatsächlich mit nichts allein. (Hier z.B. im Einrag vom 5.12.11: ‚Ich habe im Lied „60 Jahre und kein bisschen weise“ immer „aus der harten Schale nichts gelernt“ verstanden und mich schon immer gefragt, was das eigentlich bedeuten soll.‘)

Über den Blog

Das Netz wird das Altsein verändern.

Ich schätze, es wird eine enorme Veränderung sein: der Alten und des Internets. Zu sehen ist davon Ende 2017 ja noch relativ wenig. Jedenfalls solange man nicht gezielter hinschaut. „Senioren im Internet“ scheint immer noch nur eine Art Entwicklungshilfe für Alte zu sein. Eine Handreichung zur nachschlürfenden Orientierung in die Welt der modernen Technik. Das hatte (und hat noch) seine Berechtigungen. Es ist aber auch weit davon entfernt, die aktive Annahme und Gestaltung des Netzes von Alten in den Blick zu nehmen.

Jetzt aber betritt eine Generation das sogenannte Ruhestandsalter, die das Netz entwickelt und gestaltet hat oder zumindest ein Berufsleben lang mit Computern umgegangen ist.  Es  sind die Auslöser des „youthquakes“ der 1960er Jahre, die jetzt alt werden, die Generation der sogenannten Babyboomer. Sie haben auf ihrem Weg durchs Leben noch alles tiefgreifend verändert.

Das Wissen um die Prozesse des Alterns und die Möglichkeiten, vom Altern der Anderen zu erfahren und zu lernen sind heute auf völlig neue Weise verfügbar. Solches Erfahren und Lernen möchte ich in diesem Blog beobachten, diskutieren und sammeln.

Gedanken und Informationen übers Altern und Altsein und über die Lage und Bewegung der Alten mitten im unerhörten Neuen – das ist das Thema dieses Blogs.

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Zugleich gehöre ich selber dazu. Oder sollte doch anfangen, mich dazu zu zählen. Ich bin 61 geworden. Díe Zeichen sind sichtbar und merklich. Aber das Thema Altsein ist keines wie andere. Man will es nicht. Ich will es nicht. Alles Gelernte, Erworbene und Gesehene, alle Hoffnung ist bergauf gerichtet. Alles Tätige zielte auf Erweitern, Verbessern, Wachsen. Und jetzt?

Das Altsein anzunehmen wirkt erstmal wie Aufgeben – und erinnert an die schockartig erlebten Momente von tiefer Erschöpfung und hinfälliger Schwäche, die mir wirklich Angst macht. Ein Vorgefühl des Endes. Wo immer und solange ich kann, arbeite ich dagegen an – und schiebe das Alter auch als Thema weg. Später …

Jetzt ist ein anderes Aufgeben angesagt: Das von veralteten Selbstwahrnehmungen. Das Wachsen und das Gehen geht nun anders. Ich muss ein neues Tempo finden, eine neue Balance zwischen Fortschreiten und Erhalten, Jetztmachmal und Lassgutsein. In Bewegung bleiben, aber auch das Mehr im Weniger finden.

Ich kann noch kaum was davon. Ich weiß noch so gut wie nichts vom Altern und muss das Altsein von der Pike auf lernen. Das ist das zweite Thema dieses Blogs. Und vielleicht ja auch sein erster Zweck.

Antworten und Anregungen sind willkommen – von Alten und von Jungen!