Todesursache: Vom Schwein umgerannt

Wieviel Zeit uns bleibt. Und wie wir uns verrechnen können. – Eine Mahnung von Montaigne.

Soll man den Tod immer gegenwärtig haben?

Montaigne plädiert 1572 ganz eindringlich dafür. „Philosophieren heißt Sterben lernen.“ Das Cicero zugeschriebene Wort macht er zum Titel eines seiner Essays. Gemeint ist: „Wer Sterben gelernt hat, versteht das Dienen nicht mehr.“ Das Sinnen auf den Tod sei ein Sinnen auf Freiheit. Wer jederzeit mit dem Tod rechnet und bereit ist, der hat sich von allen Zwängen befreit.

Immer schon und immerzu denke er an den Tod. Vor allem sagt er: wenn es doch ungewiss ist, wann uns der Tod erwartet, dann kann es jederzeit sein! „Jede Minute deucht mich, meine Stunde schlage. Und ich sage und singe mir beständig vor: Alles, was eines Tages geschehen kann, kann heute noch geschehen!

Nach keiner Sache habe er sich auch so oft erkundigt „wie danach, wie ein Mensch gestorben ist: nach seinen letzten Worten, Mienen, Gebärden, die er dabei macht.“ Als Büchermacher würde Montaigne ein Register davon erstellen, auf welche Arten die Menschen sterben. Um die Menschen das Sterben zu lehren, und um sie das Leben zu lehren. Aber auch ohne Register kann er schon einiges davon erzählen, wie scheinbar absurd und unerwartet das Ende sich ereignen kann.

Kuriose Tode
„…wer hätte je gedacht, dass der Herzog von Bretagne im Gedränge erstickt werden könnte, wie es ihm beim Einzug des Papstes Clement in Lyon geschah? Hast du nicht einen unsrer Könige beim Spiel töten gesehen? Und starb nicht einer seiner Vorfahren davon, dass ihn ein Schwein umrannte?

Äschylos war wahrsagerisch gewarnt worden, sich vor dem Einsturz eines Hauses zu hüten; was half’s ihm, dass er sich vor jedem alten Haus in acht nahm? Ein Schildkrötenhaus erschlug ihn, das ein Adler aus der Luft fallen ließ.

Anakreon starb an einem Weinbeerkerne. Ein Kaiser schrammt sich mit einem Zahn vom Kamm, da er sein Haar scheitelt, und stirbt daran; Aemilius Lepidus daran, dass er sich mit dem Fuß gegen die Schwelle seines Zimmers gestoßen, und Aufidius, dass er an die Tür des Saales anrammte, worin er geheimen Rat hielt.

Als sie ein Weib erkannten, starben Cornelius Gallus, Prätor; Tigellinus, Hauptmann der Scharwache in Rom; Ludwig, Sohn des Guy de Gonzaga, Marquis von Mantua; und Speusippus, ein Platoniker, wie auch einer unserer Päpste gaben noch skandalösere Beispiele.“ (Montaign, Essais, 12f. – Absätze vor mir eingefügt, kvoja).

Man wird das nicht leicht für bare Münze nehmen – auch wenn die Erzählungen zu Anakreon und Aischylos ja klassische Legenden sind. Anakreon ist der Dichter, der den Wein besang und sich an einer Weinbeere verschluckte. Die absurde Geschichte zu Aischylos wird in verschieden abgewandelten Formen erzählt – zum Beispiel auch in der Naturgeschichte des Plinius, der großen Enzyklopädie des Altertums, Abteilung Vogelkunde in Buch X. Der „Entenadler“ soll die Klugheit haben, Schildkröten zum Aufbrechen ihres Panzers aus großer Höhe auf Steine fallen zu lassen. „Durch einen solchen Fall kam der Dichter Aeschylos ums Leben …

Die anderen Anekdoten sind mir unbekannt. Aber wer weiß? Den vermeintlichen Sextoten wird in ihren Biographien eher Selbstmord zugeschrieben – das könnten natürlich auch Deckgeschichten sein. Es ist auch deswegen schwer zu sagen, weil den Autoren so oft Montaignes Neugier fehlt und sie schaun gar nicht näher hin und fragen nicht und schreiben bloß „gestorben am …“ Und sind vielleicht dankbar, wenn sie Ursachen dazusetzen können, über die man nicht lange nachdenken muss.

Montaignes Leidenschaft, solche Anekdoten zu sammeln, hat aber auch vielfältige Nachfolger gefunden. In Oliver Tearles Blogpost über ungewöhnliche Autorentode für die Huffington Post macht auch Aischylos den Anfang (deutsch hier). Sehr viel reichhaltiger ist die Liste ungewöhnlicher Todesfälle in der Wikipedia. In den USA sind 1000 ways to die sogar eine Fernshow-Show geworden.

Zur Schweine-Geschichte finde ich witzigerweise die Nachricht, dass im letzten Januar in meiner Nachbarschaft Ähnliches geschah: Am frühen Nachmittag taucht plötzlich eine Wildschweinrotte am Kurt-Schumacher-Damm auf, Leute werden umgerisssen und verletzt, die Schweine ziehen in den Rehberge-Park, später wird ein Keiler mit 18 Schuss von Beamten beim Vereinsheim des BSC Rehberge niedergestreckt. „Der Verbleib der restlichen Rotte ist noch unklar.“ (lol)

Die Lebenserwartung und der Tod um die Ecke
Im Prinzip stimmt’s jedenfalls, oder? Es kann jederzeit geschehen. In der unglaublichsten Form. Es trifft auch nicht nur Alte. Für keinen von uns ist die „statistische Lebenserwartung“ eine Marke, an die wir uns halten könnten. Aber wir tun es, mehr oder weniger. An symbolischen Geburtstagen rückt er uns vielleicht nahe. Doch ohne schwerwiegenden Krankheitsbefund wird der Gedanke an den Tod zumeist wieder weggeschoben. Ist das falsch?

Wir freuen uns gar, wenn die Statistik plötzlich noch höhere Lebenserwartung „verspricht“. Individuell muss es ja nichts heißen, aber trotzdem entdecken wir gerne, dass die Statistik neben der durschnittlichen Lebenserwartung auch noch Tabellen über die „fernere Lebenserwartung“ führt! Erstmal die 60 erreicht, rechnet uns die Statistik ein paar Jährchen zusätzlich gut. Als 60-jähriger Mann darf ich auf weitere 21,52 Jahre hoffen, während nach der allgemeinen Lebenserwartung doch mehr als drei Jahre vorher Schluss wäre. Für Frauen sind es 25,19 weitere Jahre und damit etwa 2 Jahre mehr als die Lebenserwartung für Neugeborene ausweist. (Die Zahlen sind der Tabelle „Lebenserwartung in Deutschland“ des Statistischen Bundesamts entnommen; dort sind auch Berechnungen für andere Altersgruppen.)

Derweil lauert der Tod um die Ecke. Die Krebszelle wuchert schon. Irgendein Vollidiot verliert die Kontrolle über seinen Wagen, nur für einen winzigen, endgültigen Augenblick. Und, ja: „man mag an sowas nicht denken“, schiebt es weg und verschließt sich vor dieser Wahrheit. Das ist eine gewisse Schwäche.

Aber folge ich darum Montaignes Rat, den Tod immer gegenwärtig, als beständige Möglichkeit vor mir zu haben? Er fordert seine Leser direkt dazu auf:

Beim Stolpern eines Pferdes, beim Sturz eines Dachziegels, beim geringsten Stich einer Stecknadel lass uns gleich denken: je nun, wenn’s nun der Tod selbst wäre?

Je nun, das ist schriftstellerisch prima zugespitzt, doch die Nadel bleibt stumpf für mich. Es überzeugt einfach nicht. Da trennen mich Zeit und Verhältnisse von Montaigne. Natürlich kann alles Mögliche passieren. Aber ich werde jetzt nicht wirklich am Kurt-Schumacher-Damm stärker auf Wildschweine achten. Einfach weil ich mich im Allgemeinen relativ sicher fühlen darf. Nicht nur vor Schweinen.

Allein dass wir (in Deutschland) in Fríeden leben, ist ein ungeheueres „Geschenk“. Die relativ große medizinische und soziale Sicherheit (für mich, meine Familie und Freunde) sind ebenso Errungenschaften, die mich unendlich weit von Montaigne entfernen. Das klingt leicht banal und oberflächlich, aber es ist vielleicht auch eher umgekehrt und wir verkennen oft, auf wie weitreichende und tiefgründige Weise wir den Tod tatsächlich besiegt haben.

Diese Friedens- und Fortschritts- und Sozialstaats-Dividende ist nicht selbstverständlich und für immer gegeben. Da könnte schon auch deutlich mehr gehen. Vor allem mit der Verteilung stimmt’s überhaupt nicht. Wer näher hinschaut wird sehen, dass auch die Lebenserwartung für die Ärmeren deutlich geringer ist. (Nur als ein Hinweis, ich komme darauf zurück: Die Tagesschau berichtet im März 2017 über eine Studie des Paritätischen Gesamtverbandes, wonach der Unterschied zwischen arm und reich 10 Lebensjahre und mehr ausmachen kann.) Für den Einzelnen sind die Statistiken auch alles andre als Versprechen. Dennoch ist im Allgemeinen eine Sicherheit da, die ein Montaigne sich kaum erträumen konnte.

Der Tod als allgegenwärtiger Gegner
Montaigne sieht den Tod jeden Tag als „Gegner“. Sein Essay ist Kampfansage und Rüstungsmaßnahme zugleich. Wenige Tage nach seinem 39.Geburtstag findet er, dass ihm doch wenigstens nochmal soviel an Lebensjahren gebühre. Zugleich aber scheint ihm „töricht“, den Tod in die Ferne zu rücken.

Er schreibt inmitten der Konfessionskriege in Frankreich. Die „Bartholomäusnacht“, das Massaker an den Protestanten, ereignet sich noch im selben Jahr. (Auch in Bordeaux wird gemeuchelt, und Freunde von ihm sind unter Tätern und Opfern.) Am Ende seiner zweiten Amtsperiode als Bürgermeister wütet 1585 die Pest in der Stadt. Der beste Freund ist schon vor Beginn der Essays verloren. Nur eine von fünf Töchtern erreicht das Erwachsenenalter.

Mitte 30 rechnet Montaigne sich zu den Alten. Er muss sich nur umschaun, um das bestätigt zu sehen. „Du hast die Grenzsteine des Lebens überschritten. Meinst du nicht? Nun, so zähle, wie viele unter deinen Bekannten mehr waren, die vor deinem Alter starben, als deren, die es erreichten.

Der Tod ist für ihn überall; als Bedrohung so real, dass er in alle Lebensbelange hineinregiert und seine Herrschaft sich täglich fühlbar macht. Hier die große Seuche, dort eine kleine Nadel. Von da aus macht das Vorhaben einen ganz andren Sinn, sich jederzeit bereit zu halten.

Eine Preisgabe von Gegenwehr meinte Montaigne damit auch nicht, das darf man nicht missverstehen. Mit 38 zog er sich zwar ins Privatleben zurück, mit dem Vorhaben, den Rest der Zeit „für sich“ zu haben. Aber dann macht ihm die Geschichte einen Strich durch die Rechnung und er engagiert er sich doch wieder, wird als Vermittler zwischen den Fronten tätig und für zwei Amtsperioden Bürgermeister von Bordeaux. Gut möglich, dass er dem Tod so einige von der Schippe geholt hat. Sich für den Frieden zu engagieren passt einfach besser zu dem Wunsch, dass der Tod ihn nicht im Krieg, sondern beim „Pflanzen eines Kohls“ abhole.

Am Ende war’s in der Messe. Montaigne soll „plötzlich“ während einer Messe gestorben sein, lese ich. Ein Opfer der Diphterie. Von letzten Worten, Miene und Gebärden steht da nichts. Aber ich bin neugierig geworden; vielleicht krieg ich ja noch was raus. Diese Wendung vom „plötzlichen“ Tod jedenfalls, wie das so übliche „plötzlich und unerwartet“ – das glaub ich nicht. Eher hat er ihn erkannt, den Tod, und vielleicht „ausgerechnet hier?“ gedacht ….

P.S.: Muss man hinzufügen?
… dass diese Unterscheidung von Montaigne und „uns“ nur für einen kleinen Teil der Welt heute gültig ist?

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Zusatz:
Die vielfach empfohlene „erste moderne Gesamtübersetzung“ der Essays von Hans Stilett finde ich leider nicht verfügbar. Die Zitate sind nach der Übersetzung von Johann Joachim Bode wiedergegeben, in der Ausgabe des Insel-Verlags von 2001, eine leider doch schmale Auswahl. Zweitausendundeins.de bietet derzeit eine Gesamtausgabe dieser Übersetzung an.

Für die Übersetzung von Hans Stilett nimmt mich spontan ein, dass sie – ein „Ruhestandsprojekt“ ist. Da hat sich jemand nach Ende seiner Berufslaufbahn noch einmal aufgemacht: studiert, promoviert und eine große Arbeit begonnen und geleistet.

Online finde ich deutschsprachige Übersetzungen nur sehr begrenzt. Das Angebot des Projekt-Gutenberg reicht (derzeit?) nur bis Kapitel 16 und erscheint mir nahezu unbrauchbar. Wohl dem, der Französisch liest! Das kanadische themontaigneproject bietet den vollständigen Text. scholarbanks den englischen Text in einer frühen Übersetzung von John Florio.

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Auch das noch:
In (Selbst-) Darstellungen der Chemie wird gerne mal ein Spruch des deutschen Chemikers und Industriemanagers Carl Heinrich Krauch zitiert: „Früher starben die Menschen mit 35 Jahren, heute schimpfen sie bis 95 auf die Chemie„. Er selber nicht. Er starb mit 72 bei einem Verkehrsunfall. – Die moderne Statistik mit ihren „Lebenserwartungs“-Zahlen gibt Montaigne schon Recht: was irgendwann passieren kann, kann ebenso heute geschehen. Man kennt das umgekehrt schon vom „Mensch Ärger dich nicht“, wenn die Sechs einfach nicht kommen will.

Oder das:
Charlie Brown sitzt im Peanuts-Comic mit Snoopy am See und blickt hinaus: „Eines Tages werden wir alle sterben, Snoopy!“ – Snoopy: „Ja, das stimmt, aber an allen anderen Tagen nicht.

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