Alle wollen alt werden, aber niemand alt sein – Cicero über das Alter, Teil 3

Unter den „Weisheiten übers Alter“ ist das ein Klassiker.  Klassisch geprägt hat Cicero diese Münze, indem er es seinen  Redner Cato als Ausgangspunkt zur Widerlegung von Altersklagen nehmen lässt.

 

Die Frage des Alters als Gerichtsverhandlung

Cicero lässt Cato sich für das Lob bedanken, sein Alter in Würde zu tragen, und sogleich zieht er gegen Klagende zu Felde, indem er vom Alter behauptet:

quam ut adipiscantur omnes optant, eandem accusant adepti; tanta est stultitiae inconstantia atque perversitas

Die Reclam-Ausgabe übersetzt:

„alle wünschen, dass sie es erreichen, doch wenn es erreicht ist, klagen sie es an; so unbeständig und abartig ist die Dummheit“

Wäre der Zusatz von der „Dummheit“ nicht da, dann könnte das Wünschen und Klagen schon auch eine schlichte Beschreibung über den gewöhnlichen Lauf der Dinge sein. Man wünscht sich, lange zu leben und hat dann aber über die letzte Phase doch Grund zu klagen. Ist doch „normal“, oder? Man wird nicht seinen Lebenswillen aufgeben und vorzeitig Schluss machen, weil das Alter so beschwerlich ist. Und soll man im Alter dann so tun als wäre nichts? Soll man die lächerliche Figur abgeben, Kräfteverfall und Gebrechen zu leugnen, die lüsternen Greis*innen und prahlerischen Alten zu geben? Oder aber wie alte Beeren den Rest der Zeit still am Baum verdorren?

Aber Cato nennt das Klagen eine Dummheit. Was genau meint er? Und was soll sogar „abartig“ daran sein, über die Gebrechen des Alters zu klagen? Wenn es Reichtum wäre, würden wir die Klagen ja schnell als „abartig“ akzeptieren. Reich werden wollen, und dann darüber klagen? Da hieße es „Deine Sorgen möcht ich haben!“ Beim Alter aber eher nicht. Das liegt doch wohl an der Sache, oder?

Wer immer die genannte Weisheit übers Alter hört, spürt einen rhetorischen Trick am Werk. Da werden Sätze über das Alter so zusammengefügt, dass sie einen Widerspruch ergeben. Man erwehrt sich des Tricks, indem man das Altwerden-Wollen als bloßes Sprachspiel durchschaut:  „Ach geh, dass ich nicht vorher abkratzen will, heißt noch lange nicht, mich aufs Altsein zu freuen!“ Tatsächlich gehört der Wunsch, alt werden zu wollen, zur Untergattung der Wünsche, mit denen man sich für gewöhnlich weniger hingebungsvoll befasst. Wie oft wacht man morgens auf mit einem glücklichen „oh, wie schön, im Traum war ich alt“?

Das sagt vielleicht, wer dann zur Arbeit muss und nicht mag. Der „Ruhestand“  als aktiv genießbare und selbst gestaltbare Zeit, als verlängerte Ferien am Lebensabend, die sogar zum „neuen Leben“ ausgebaut werden können: ja, das kann ein Gegenstand des Wünschens sein. Aber das ist eine moderne Errungenschaft, von der Cicero nichts weiß und die Schrift nicht handelt.

Für Cicero ist das Alter tatsächlich eine „herandrängende Last“, wie er eingangs schreibt; eine Sorge, mit der man sich ernsthaft beschäftigt und beschäftigen muss. Er tut es hier – und er tut es als Anwalt. Der „rhetorische Trick“ kommt nicht von ungefähr: Cicero ist Anwalt. Der bekannteste und erfolgreichste seiner Zeit und als Redner und Lehrer der Rhetorik einer der bedeutendsten aller Zeiten. Subjektiv macht er das, was jedem zu empfehlen ist, der sich mit dieser herandrängenden Last zu befassen hat: er mobilisiert seine besten Fähigkeiten, um sich der Aufgabe zu stellen. Er geht sie als Anwalt an und entwickelt eine Gerichtstaktik für den besonderen Fall. Das römische Volk gegen das Alter, verteidigt von Marcus Tullius Cicero alias Cato, der Ältere.

In Ciceros Szene agiert ein Profi vor Gericht. Als erstes schaut er sich die Geschworenen an. Wer sitzt hier und hat eine Stimme im Prozess? Alte, einflussreiche Männer. Keine jungen Männer, die das „jeder will alt werden“ gleich auslachen würden. Sondern schon alt gewordene. Sie haben leben und älter werden wollen. Der Verteidger erwischt sie bei dem Widerspruch, dass sie das, was sie jetzt sind, ja schon tatsächlich gewollt haben und sich nun dennoch drüber beklagen.

Wenn man das „Klagen“ juristisch nimmt, dann stimmt da wirklich was nicht zusammen: du kannst keinen Prozess gegen etwas führen, dass du selber Tag für Tag als Absicht  verfolgt hast!

Und Cicero belegt das auch nicht einfach mit Schimpfworten, sondern er arbeitet den Widerspruch heraus: „tanta est stultitiae inconstantia“. Wörtlich übersetzt: so groß ist die Unbeständigkeit der Torheit. „Unbeständig“ ist hier erstmal ein Wort, das als sachliche Beschreibung gerechtfertigt ist. Der frühere Blick ist ja aufgegeben und durch etwas anderes ersetzt worden.

Und kann man das Klagen nicht auch als eine Umkehr der Ansicht verstehen? Genau das betont das angeschlossene „atque perversitas“. Perversitas heißt wörtlich „Verkehrtheit“ und meint eine Richtungsänderung im Sinne der „um 180° gedrehten Anschauung“. Auch das ist ja durch die Beschreibung  gedeckt – und führt aber die Bewertung des sittlichen Verkehrten im Schilde. Die Umkehr wird zum falschen Weg.

(Weil die Übersetzer der Schrift meist immer schon auf seiner Seite sind, fällt es ihnen manchmal schwer, das Herausarbeiten von Bedeutungen wiederzugeben. So wird in der Reclam-Übersetzung perversitas überdeutlich mit „abartig“ wiedergegeben und Ciceros Arbeiten an Zustimmung in die Nähe eines bloßen Schimpfens verschoben. Ähnlich auch die Harvard-Übersetzung; Gottwein und lateinlehrer.de bleiben dagegen beim wörtlichen „Verkehrtheit“.)

So weit, so schlau, könnte man sagen. Aber wie sehr überzeugt das? Sollte man nicht vielleicht eher sagen, dass die Alten zur Einsicht Gekommene sind? Sie haben früher nur kenntnislos über das Alter gesprochen. Als Jugendliche war nur Wachstum der Kräfte ein Thema; und auf der Karriereleiter hatten sie mit anderem zu tun: Spiele organisieren, um das nötige Ansehen für die Ämterwahlen zu gewinnen; sich in den Ämter bewähren, anschließend als Statthalter Provinzen regieren und dort Reichtümer anhäufen. Bevor du noch viel gedanklich begreifst, bist du schon alt geworden und plötzlich sehen die Dinge anders aus. Die Umkehr in der Ansicht ist also vielleicht sachlich angemessen. Nicht dumm, sondern im Gegenteil das Ende der Dummheit. Oder?

Aber der Redner lässt seinem Publikum keine Zeit, die Sache zu bedenken und geht gleich über zur nächsten Vorführung, wie dumm die Klagenden sind.

 

Wer „plötzlich“ 60 wird, hat zwischendurch das Zählen vergessen

Die Klagenden sagen, behauptet Cato nun, das Alter nähere sich schneller als sie angenommen hätten. Ist hier die Dummheit nicht offensichtlich?

Wer zwang sie, etwas Falsches anzunehmen?“

Wie kommt man wohl dazu, sich von bekannten Daten überraschen zu lassen? Und für wen das gilt – wird der nicht ebenso überrascht sein, wenn das Alter mit 800 eintritt, und es dann ebenso beschwerlich finden wie jetzt mit 80?

Damit hat Cato sein Publikum erwischt. Die meisten werden nicht allmählich, sondern plötzlich alt. Was könnte wohl dümmer sein? Und welchem Alterskläger ist es nicht so ergangen? Jetzt nicken die Köpfe. Der Redner hat sein Ziel erreicht und das Publikum zur ersten Zustimmung bewogen. Was eben noch mehr Verblüffung und ein nur halbherziges Ja zu logischer Richtigkeit war („ja, stimmt schon, kann man als Wende sehen“), das kriegt jetzt den Charakter eines Geständnisses. „Oh ja, das muss ich zugeben, so ist es mir ergangen. Und natürlich war es dumm.“

An diesem Punkt schließt Cato dann sein Credo als Lehre an: „der Natur als beste Führerin“ zu folgen. Es muss

„… zwangsläufig irgendein Ende geben und, wie bei den Beeren der Bäume und den Früchten der Erde zur Reifezeit, gleichsam etwas Verwelktes und Hinfälliges, was ein Weiser mit Gelassenheit ertragen sollte.“

Wie die späteren Ausführungen zeigen, ist „ertragen“ dabei kein Plädoyer für Passivität, sondern meint, das Alter aktiv anzunehmen. Die Alten sollen tätig bleiben. Aber eben ohne Klage, sondern in Einsicht in den naturnotwendigen Gang der Dinge, dass ihre Kräfte nachlassen.

In dem Naturbild ist das Alter jetzt ein Lebensabend und man konnte es morgens und mittags wissen, dass es einen Abend geben wird. Wie kommt es, dass es die meisten doch überrascht? Auch mit der Frage hält sich Cato nicht weiter auf. Das Phänomen selber ist ihm nicht wichtig. Es ging um den Effekt im Publikum. Und den hat er erreicht.

 

Der Winkeladvokat als Tugendlehrer

Außerhalb des imaginären Gerichtsverfahrens sehen die Dinge anders aus. Morgen und übermorgen werden die nächsten überraschend 60. Weil sie das Alter verdrängt haben. Verdrängt, weil es ängstigt. Das Verblüffende ist, dass Cicero ausgerechnet diese Verdrängung, also massive Altersängste als Argument gegen die Alterskläger nutzt! Zwei Sätze nach seiner Behauptung, dass alle alt werden wollen, benutzt er die Wahrheit: dass niemand alt werden will.

Ein konstruierter Scheinwiderspruch und eine echte Lebenslüge – und schon wird dir aus der Wahrheit, dass du Angst vorm Alter hast, erwiesen, dass es falsch ist, Angst vorm Alter zu haben.

Kann das funktionieren? Ja, aber hauptsächlich nur für diejenigen, die schon alt sind. Die anderen hören sich das erst gar nicht an und lassen sich sozusagen überraschen. Die Alten aber müssen sich mit den Alterserscheinungen auseinandersetzen. Sie klagen ja, weil sie nicht zurecht kommen. Das heißt zugleich aber auch – und darauf setzt der Anwalt! – dass da ein Bedürfnis ist, mit dem Alter seinen Frieden zu machen. Für dieses Bedürfnis gibt es hier ein Angebot.

In der Schrift kommt dieses Angebot voller Winkelzüge daher. Was eben benutzt wurde, ist gleich darauf ins Gegenteil gewendet. In einem Moment ist die Rede eine Art Einübung, eine Meditation mit den Mantras von Früchten und Beeren, Reife und Gelassenheit. Es wabert Herbst und Abende. Im nächsten Moment landen wir in Heldenerzählungen von Alten, die militärische Glanzleistungen vollbringen. Und dann wieder werden Kläger lächerlich gemacht und ehemalige Konsuln an ihrer Ehre gepackt und „dumm“ genannt.

Alles ohne ernsthafte Gegenrede. Juristisch nicht weiter schlimm, weil am Ende des imaginären Prozesses ja auch keine Abstimmung stattfindet und kein Urteil gesprochen wird. Die Abwägung des Für und Wider findet in jedem einzelnen Zuhörer (bzw. Leser) statt – und die meisten hören dankbar zu, ein paar gute Tipps und Entgegnungen für die Zweifel des Alltags erhalten zu haben.

Der Zweck der Schrift ist Tugendmahnung und Beschwörung des Altehrwürdigen. Die Angesprochenen sind die Herrschenden in Rom – und auf die gemünzt heißt das Ganze etwa:

„Ihr seid die Herren der Welt! Ihr habt alles zur Verfügung, was Menschen haben können. Euch ging’s ein Leben lang gut und ihr habt ein langes Leben gewollt. Jetzt, wo ihr alt seid, lasst ihr euch gehen und jammert herum? Das ist abartig. Richtet euch gefälligst auf!“

 

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